Logo Epikur - Journal für Gastrosophie
Zentrum für Gastrosophie Impressum

FRIEDRICH Peter, PARR Rolf (Hg.): Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation. Synchron, Heidelberg 2009

GSCHWANDTNER Harald.   

Ein fokussierter Blick auch auf die eigene Lektürebiographie macht schnell deutlich, wie häufig und wie facettenreich das Motiv der Gastlichkeit, des Bewirtens in der (kanonisierten) Literatur verhandelt wird - man denke nur an den zwischen der Gewährung eines erquicklichen Gastrechts einerseits und der Position eines entrechteten Dieners andererseits changierenden Status des „Gehülfen" in Robert Walsers gleichnamigem Roman oder an den so deutlich unwillkommenen K. in Kafkas „Das Schloss". Während Geschichtswissenschaft (z. B. Hans Conrad Peyer, „Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus") und Philosophie (z. B. Hans-Dieter Bahr, „Die Sprache des Gastes") bereits einschlägige Studien zum Thema der Gastlichkeit vorgelegt haben, stand ein umfassender literaturwissenschaftlicher Blick bisher aus. Dies ist umso bemerkenswerter, als das Zu-Gast-Sein als eine „Schwellensituationen der Begegnung von Fremdem und Eigenem, von Innen und Außen, Nähe und Ferne, Intimität und Öffentlichkeit" „immer auch etwas mit Erzählen zu tun hat" (8). Im Feld des Erzählens stellt sich das Thema des von Peter Friedrich und Rolf Parr im Heidelberger Synchron-Verlag herausgegebenen Sammelbandes nun in zweifacher Weise dar; so „firmiert die Gastsituation <...> einerseits als konstante Urszene, andererseits als variabler Reflexionsmodus." (9f.) Denn literarische Texte sind nie bloß Abbild sozialer (und in diesem Fall im Besonderen gastrechtlicher) Praxis, sondern beziehen sich einerseits stets implizit oder explizit auf jene kulturellen Grundtexte, die den Begriff der Gastlichkeit bis heute wesentlich prägen (man denke hier sowohl an die Bibel als auch an Homers „Ilias" und „Odyssee"; vgl. dazu u. a. den Aufsatz von Beate Czapla (198ff)), und beinhalten andererseits ein progressiv-kreatives Über- und Weiterdenken jener „Urszene". So spricht Achim Geisenhanslüke in seinem Beitrag davon, dass Kleist in der Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo" „die beiden Begriffe des Gastes und des Feindes in einen wechselseitigen Taumel" (286) versetzt habe.

Der Band „Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation" versammelt Analysen von verschiedensten Texten und Kontexten und gliedert sich in vier wesentliche Abschnitte. Im ersten Teil wird das Terrain des Gastlichkeitsbegriffs abgesteckt, werden kulturwissenschaftliche wie philosophische Dimensionen (im steten Rückgriff auf die wesentlichen Bezugstexte von Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf" und Jacques Derrida, „Von der Gastfreundschaft") des Diskurses verhandelt, denn - wie es im Beitrag von Wolfgang Braungart und Sascha Monhoff heißt - „Gastlichkeit war und ist überall ein grundlegender Typus kultureller Praxis, in der die Begegnung mit dem Anderen, der nicht zum eigenen ‚Haus' gehört, womöglich mit dem Fremden, vollzogen und gestaltet wird. Diese Begegnung mit dem Gast kennt ihre eigenen, kulturspezifischen Regeln." (89)

Im zweiten Abschnitt werden im Speziellen historische und literarische Räume der Gastlichkeit in den Blick genommen, wobei der Bogen vom Verhältnis von Gast und Wirt im Mittelalter (Meinolf Schumacher) über eine frühneuzeitliche Wirtshausgeschichte (Beate Kümin) bis zu einer stärker philologisch fundierten Studie von Alexander Honold zur narrativen Funktionalisierung des Gasthauses zwischen Theologie und Ökonomie - von Lessings „Minna von Barnhelm" über Goethes Versdichtung „Hermann und Dorothea" bis zu Hölderlins berühmtem „Gasthaus"-Fragment - gespannt wird.

In der nächsten Sektion werden nun anhand verschiedenster literarischer Texte Situationen der (Un)Gastlichkeit - „zwischen Irritation und Eskalation" - behandelt, sei es in der Analyse einer massiven Negierung der gastrechtlichen Regeln bei Franz Grillparzer und Karl Philipp Moritz (Michael Niehaus) oder mit einer stärker gendertheoretisch geprägten Sichtweise auf Texte von Arthur Schnitzler und Stefan Zweig (Julia Bertschik). Dabei wird stets die Brücke geschlagen zu benachbarten geisteswissenschaftlichen Fächern, so z. B. wenn der Mitherausgeber Rolf Parr in seinem Beitrag zu Wilhelm Raabe explizit Bezug nimmt auf Pierre Bourdieus Überlegungen zum Prinzip des ‚do ut des' (304f). Überhaupt ist zu konstatieren, dass die Beiträge des Bandes stets auch auf Nähe und „Anschlussmöglichkeiten" einer philologischen Gastlichkeitsforschung zu verwandten Disziplinen der avancierten Kulturwissenschaften hinweisen, so zur „ebenfalls an Alterität interessierten postkolonialen Literatur- und Kulturwissenschaften sowie als deren jüngerer Variante der eher Lokales und Regionales in den Blick nehmenden Nachbarschaftsforschung." (12f.)

Die Verhandlung von Szenen der Gastlichkeit in Film und Fernsehen hat der letzte Abschnitt des Sammelbandes zum Thema. So zeigt Karin Bruns, wie - so die Einleitung - Gastmähler auch „in kulinarischen Doku-Soaps auf Basis ihres hohen Ritualitätsgrades zu zenralen Schaltstellen des Narrativen werden" (12), während sich Matthias Thiele an einer Entwicklungsgeschichte der Gastlichkeit im „Mediendispositiv" Fernsehen versucht, wobei so unterschiedliche Sendungen wie „Bauer sucht Frau", „Die Harald Schmidt Show" und „The Simpsons" in die Argumentation einbezogen werden.

Aus der Vielzahl der Ansätze und Blickwinkel auf das umfangreiche Thema des Sammelbandes ergibt sich ein vielschichtiges Bild eines wirkungsmächtigen narrativen Motivs und Sujets. Von der Regel des Heiligen Benedikt, die besagt, jeder „solle so aufgenommen werden, als ob Jesus selbst zu Gast wäre" (91), bis zum „perfekte Dinner" auf VOX (354) ist es ein weiter Weg - ein Weg, den dieser instruktive Band freilich zu gehen vermag.

RezGastlichkeit (49k)

Link zum Verlag

FRIEDRICH Peter, PARR Rolf (Hg.): Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation. Synchron, Heidelberg 2009