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Die Augen essen mit. Kulinarisches Kino als Gastrosophie und Forschungsfeld interdisziplinärer Ernährungskultur

Daniel KOFAHL, Gerrit FRÖHLICH & Lars ALBERTH.   

Vor vierzig Jahren, 1973, kam "Das große Fressen" in die Kinos. Dieser Skandalfilm ist der Startschuss für das kulinarische Kino. Spielte Essen und Trinken in Kinofilmen vorher eher eine Nebenrolle, wird es nun zum Träger der Haupthandlung.

Von diesem Zeitpunkt an heißt es: „Zeig mir, wie sie essen, und ich sag dir, wer sie sind!". Das große Fressen(1) wird ein Publikumserfolg und auf ihn folgt eine Reihe von kulinarischen Filmen, die allesamt in die Kinogeschichte eingegangen sind: im Jahr 1976 zum Beispiel die Komödie Brust oder Keule, in der ein überdrehter und nicht wenig selbstverliebter Gourmetpapst, gespielt von Louis de Funès, den Angriff des Fast-Foods auf das gute Geschmacksempfinden zu stoppen versucht.(2) Die Zuschauer dieses Films werden auf unterhaltsamste Weise dazu animiert, die vermeintlich bipolare Aufteilung der Welt in Gourmets und Gourmands zu reflektieren. Es ist eine Form ironischer Aufklärung,(3) die hier stattfindet.

 

Von Japan bis Jütland

Ganz ähnlich verhält es sich bei dem 1985 erschienenen Film Tampopo, einem modernen Märchen, in dessen Mittelpunkt eine japanische Köchin und ihre Suche nach der perfekten Nudelsuppe stehen. Wer glaubt, nur die mehrgängigen Gerichte der Haute Cuisine seien komplex und einer intensiven Betrachtung würdig, der weiß es nach Tampopo besser. Die kulinarischen Herausforderungen warten an jeder Straßenecke, man muss nur seine Sinne schärfen und seine Vorurteile ablegen, um ihnen auf die Schliche zu kommen.(4)

Was zu gewinnen ist, wenn man interkulturelle Toleranz in der kulinarischen Welt und damit auch in der eigenen Küche zulässt, erfährt man bei Babettes Fest (1987).(5) Gabriel Axel verfilmte Tanja Blixens Roman über eine katholische Gourmetköchin aus Paris, die es auf der Flucht in ein puritanisches Dorf in Jütland verschlägt. Zu Recht erhielt er dafür einen Oskar in der Kategorie „Bester ausländischer Film". Dabei kommt Babettes Fest ganz unaufgeregt daher und zeigt sich sensibel gegenüber den Gefühlen, die einzelne Protagonisten mit ihrer traditionellen Ernährungsweise verbinden. Kein imperatives „Jetzt probiere doch endlich!" schallt einem entgegen, sondern es findet eine dezente Verführung zum kunstvollen Wohlgeschmack statt. Trotzdem wird dem Zuschauer deutlich vor Augen geführt, dass jede „Kostprobe" schnell zu einer „Mutprobe" werden kann.

 

Kulinarische Reise in die Gegenwart

Auf dem Weg in die Gegenwart müsste man noch zahlreiche weitere Filme erwähnen: Eine Komödie im Mai (1990), Delicatessen (1991) Bittersüße Schokolade (1992), Eat Drink Man Woman (1994), Zimt und Koriander (2003) oder Ratatouille (2007) sind nur einige wenige, die es verdient haben, ausführlicher besprochen zu werden. In all diesen gastrocineastischen Erzählungen geht es um den Stellenwert des Essens und Trinkens in einem guten Leben. Es geht um Geschmack und um Hunger, um Gastfreundschaft und manchmal auch um Futterneid. Es geht um die Liebe zum Essen und damit verbunden, um die Liebe zu den Menschen, die zwangsläufig essen müssen, aber in der Lage sind, zu entscheiden, wie sie sich ernähren wollen - selbst wenn sie diese Entscheidung und die damit verbundene Verantwortung gerne mal von sich schieben.

Blickt man auf das Jahr 2013, so steht dieses in Bezug auf das kulinarische Kino den vorangegangen Jahren in nichts nach. Mit Die Köchin und der Präsident und Sushi in Suhl liefen bereits zwei kulinarische Geschichten in den deutschen Kinos, die nicht nur Zerstreuung, sondern außerdem gastrosophische Stimuli bieten. In Dokumentarfilmen, wie dem allerdings schon 2012 erschienen More than Honey, der sich um Bienen und ihre Bedeutung für die Landwirtschaft dreht, werden zudem ernste Themen der inzwischen weitestgehend industriellen Agrarwirtschaft thematisiert. Dem Experimentalfilmemacher Thomas Struck ist es darüber hinaus zu verdanken, dass es auch dieses Jahr auf der Berlinale eine Sektion „Kulinarisches Kino" gab. Dort wurden ausgewählte Filme gezeigt, die sonst in Deutschland einer größeren Öffentlichkeit kaum zugänglich gemacht werden. Wer an eine der begehrten Eintrittskarten gelangte, konnte bei der Weltpremiere von Filmen über die Slow Food Story oder die oftmals obsessive Liebe zum Rotwein (Red Obsession) dabei sein und anschließend bei einem guten Essen darüber diskutieren.

Einer der im Rahmen der Sektion gezeigten Filme, die nachdrücklich in Erinnerung geblieben sind, ist La Rizière. Die Regisseurin Zhu Xiaoling erzählt in diesem teilweise autobiografischen Film eine Geschichte über das Leben chinesischer Kleinbauern, die in ihrem abgelegenen Dorf auf weitgehend traditionelle Art und Weise Reis anbauen. Dabei beeindruckt zum einen die emotionale Nähe der Bauern zu dem der Natur abgerungenen Lebensmittel. Zum anderen wird die harte Arbeit, die in diesem ebenso existentiellen wie bedrohten Handwerk steckt, nicht romantisiert. Die Hauptdarstellerin des Films, die Tochter eines Reisbauers, wünscht sich darum auch nichts sehnlicher, als ihre Heimat zu verlassen und später einmal in der Stadt zu studieren. Der aufgeklärte, westliche Zuschauer in seinem gepolsterten Kinosessel muss sich im Anschluss an den Film selber die nötigen Gedanken machen, ob es einen möglichen Weg zwischen Tradition, musealer Erhaltung und der unaufhaltsamen Moderne in der Landwirtschaft und in der Küche gibt.

 

Das kulinarische Kino als Träger gesellschaftlicher Bedeutung

Das Credo einer soziologischen Filmanalyse, die sich als Beitrag zur interdisziplinären Kulinaristik versteht, lautet: Jeder Film, und mag er auch noch so erfunden sein, kann als Dokumentarfilm seiner Zeit angesehen werden.(6) Dabei können Filme, wie beispielsweise die bereits genannten aus dem Bereich des kulinarischen Kinos, jedoch nicht einfach als mechanische Abbilder der Realität verstanden werden. Sie liefern zunächst einmal Interpretationen und vermitteln über ihre Erzählstrukturen und Stereotype jeweils Normen, Vorurteile, Meinungen - kurzum: eine eigene Weltanschauung. Filme stellen Deutungsschemata und Scripts zur Verfügung, mit denen soziale Situationen „gelesen" werden können. Darüber hinaus verhandeln die fiktiven Geschichten in ihren Handlungskonflikten zugleich Wertkonflikte und „(legen) ideale Verhaltensweisen (frei), die wiederum soziale kollektive Ideale vermitteln."(7)

Gerade dem Alltäglichsten, zu dem die Nahrungsaufnahme gehört, ist oftmals am schwersten auf die Schliche zu kommen. Was sich normalerweise der Beobachtung entzieht - flüchtige Bewegungen, Ausdrucksgesten, Details -, wird in der Fiktion und durch das Auge der Kamera deutlicher. Über diese Funktion des Films schrieb der Filmwissenschaftler Siegfried Kracauer in einem Brief an Erwin Panofsky: „The whole dimension of everyday life with its infinitesimal movements and its multitude of transitory actions could be disclosed nowhere but on the screen. (...) Films illuminate the realm of bagatelles, of little events."(8) Das Gezeigte weist über das Erzählte und Erzählbare hinaus. Was sich im Alltag durch Unvollständigkeit, Ungenauigkeit und Belanglosigkeiten auszeichnet,(9) macht der Film sichtbar und spitzt es so zu, dass die bedeutungsvollen kulturellen Leistungen des scheinbar Trivialen erkennbar werden. Ähnlich, wie im Fall der Literatur, präsentieren Filme somit eine fiktionale Ordnung, „damit man von da aus die normale, allen bekannte Wirklichkeit betrachten kann, etwa in ihrer Härte und Unausweichlichkeit oder in ihrer Normalität und Langweiligkeit."(10)

Was aber natürlich den Film vom Roman unterscheidet, ist seine spezifische ästhetische Qualität: seine Verankerung im bewegten Bild. Nur mit Unterstützung von audiovisuellen Medien gelingt es, die Trennung von Wort und Mimik in einem gleichzeitigen Akt mitzuteilen. Widersprüche beispielsweise zwischen einer dem rationalen Willen unterliegenden, digitalen Sprache einerseits und sinnlichen, analogen Regungen andererseits können synchron zum Ausdruck gebracht werden - im Roman ist dies immer nur nacheinander möglich. So können zwar beispielsweise die Essenden in Babettes Fest beschließen, kein Wort des Lobes für ein vorzügliches Mahl über ihre Lippen kommen zu lassen, doch ihr authentisches Minenspiel verrät den empfundenen Wohlgeschmack der schweigenden Verschwörer sogleich.(11) Ein ähnliches Spiel unterschiedlicher Ebenen findet sich in Filmen wie American Beauty, in denen Ernährungsrituale zwar eher eine Nebenrolle einnehmen, aber dennoch die Handlung um wichtige Aspekte ergänzen. So wird die Wandlung Lester Burnhams vom unzufriedenen und kraftlosen Verlierertypen zum selbstbewussten und Konventionen brechenden Rebellen in mehreren Tischszenen treffend nachgezeichnet.(12)

 

Die Inszenierung kulinarischer Praktiken

Das kulinarische Kino lässt sich als darstellender Gebrauch und audiovisuelle Codierung nicht einfach der Nahrungsaufnahme verstehen, sondern spezifischer der ästhetisch-sinnlichen Wahrnehmbarkeit von Essen und Trinken. Es ist ein Kino, das Sinn und Sinnlichkeit in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückt.

Der Film ermöglicht es etwa, dem Prozess des Kochens auf besondere Art nachzuspüren. Mit Bewegungen vor der Kamera, Kamerafahrten oder geschnittenen Perspektivenwechseln kann der eingeübte Blick für die architektonische Mehrdimensionalität des „Speisenbauens",(13) wie es Peter Kubelka nennt, einmal mehr variiert werden - und zwar in der ganzen Breite der kulinarischen Gebrauchsformen:

  1. Erstens arbeitet der kulinarische Film die entsprechenden Klassifikationen des Schmeckens und Genießens heraus. Er plausibilisiert und etabliert Kategorien des Schmackhaften und des Ungenießbaren, beispielsweise dass ein Wein „korken" kann, dass ein Kaffee stark, aber nicht zu stark sein darf, dass Soßen sämig zu sein haben und Zutaten generell frisch. Geschmack ist immer schon durch Kommunikation geprägt,(14) so wie es zum Beispiel in Tampopo vorgeführt wird. Es kommt zu den Koch- und Essvorgängen vorgelagerten, parallel ablaufenden und retrospektiven Kommunikationen, welche die Ereignisse als sinnhafte kulinarische Handlungen hervorbringen, beeinflussen oder nachträglich in ein anderes Licht rücken. Und zwar, weil „was wem wie schmeckt oder nicht schmeckt" ein prinzipiell unabschließbares Thema ist, das sich in zahlreichen Perspektiven entfalten lässt. Das gastronomische Küchenkollektiv in Tampopo steht exemplarisch für eine solche Form fruchtbaren Perspektivenpluralismus.
  2. Zweitens präsentiert der kulinarische Film die typische Materialität, das heißt die Zutaten - Früchte, Fleisch, Milchprodukte et cetera, aber auch Öle, Kräuter und Gewürze - und deren Transformation zu schmackhaften Gerichten, wozu allerlei spezielle Instrumente eingesetzt werden: Mörser und Messer, Kochtopf und Kochlöffel, Schürze und Topflappen, Backofen und offener Grill. Ein eindrucksvolles Beispiel findet sich in Ang Lees Eat Drink Man Woman, in dessen Verlauf der leidenschaftliche Koch Chu mehrfach minutenlang selbstvergessen bei der kunstvollen Zubereitung und dem Anrichten der Speisen gezeigt wird.(15)
  3. Drittens muss der kulinarische Film auch seinen zentralen Akteuren (zum Beispiel Koch, Gourmand oder Gourmet) eine Bühne bieten und ihre entsprechenden kompetenten kulinarischen Handlungen (Vorbereiten der Zutaten, kontrolliertes Garen, Abschmecken und Anrichten, Degustieren und Probieren und viele mehr) würdigen. Das kulinarische Personal folgt „genau festgelegte(n) Vorschriften", indem es Zutaten zunächst trennt und zerkleinert, um sie „zu wohl geordneten Formen neu zusammen(zusetzen)"(16) und um diese Produkte zu verspeisen. Dazu kommen die entsprechenden Gesten und die Mimik des Genießens: den Mund öffnen, die Augen schließen, das Gesicht langsam von unten nach oben heben, um das Einatmen und damit das Riechen anzuzeigen, die Gabel und das Glas zum Mund führen, sorgfältiges Kauen und Schlucken. Abschließendes Streicheln oder Beklopfen des Bauches. Solchermaßen aktive beziehungsweise aktivierte Körper werden fast überall im kulinarischen Kino in Szene gesetzt. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf Bittersüße Schokolade verwiesen, in dem sowohl der Genuss wohlschmeckender Speisen, aber auch der Selbstüberwindung kostende Verzehr unappetitlicher Gerichte, unmittelbar intim an den Körpern der Protagonisten, den Zuschauern zugänglich gemacht wird.
  4. Viertens schließlich werden die mit den kulinarischen Codierungen und Praktiken einhergehenden Beziehungen thematisiert: Ein Film wie Bittersüße Schokolade macht beispielsweise über den Umweg der Darstellung „magischer" Kochfähigkeiten deutlich, wie sich ein Liebespaar über das kulinarische Medium zugleich findet und von der restlichen Gesellschaft abgrenzt.(17) Eine Komödie im Mai hingegen legt die geschlechtliche und generationale Ordnung frei, durch die Nahrungsproduktion, -zubereitung und -genuss durchzogen sind.(18) Aber auch der Gast, der sein Steak well done gebraten möchte, positioniert sich möglicherweise am Rande einer kulinarischen Gemeinschaft, während das vom Gault-Millau prämierte feine französische Restaurant oder der Tempel der Molekularküche als Orte des Genusses ebenso diffizil wie exklusiv sind. Besonders schön zeigt dies auch eine Situation in Bella Martha, in der sich die Köchin Martha dem Wunsch eines Gastes verweigert und ihm die korrekte Zubereitung der foie gras erläutert. Der Gast ist damit schnell aus der kulinarischen Gemeinschaft des Restaurants ausgeschlossen. Und wer würde bestreiten, dass nicht auch ein Großteil des boomenden Genres des Vampirfilms darauf beruht, dass seine Protagonisten sich zuallererst durch eine ganz bestimmte Ernährungsweise aus der Gesellschaft ausgrenzen, sich zu „Unmenschen" machen?(19)

Im Sinne einer kulinarischen Aufklärung dient das Kino ebenso als Verbreitungsmedium eines besonderen sinnhaft-sinnlichen Wissens, motiviert zur Aufnahme von kulinarischen Kommunikationsprozessen und macht deren praktisches Zustandekommen dadurch wahrscheinlicher.(20) Man kann das (kulinarische) Kino im Anschluss an Fritz Heider und Niklas Luhmann als Medium beschreiben, in dem sich zahlreiche Formen realisieren können, die diesem Medium zwar Gesichter geben, aber nicht seine letztendliche Gestalt offenbaren. Die Formen zeigen durch das, was realisiert wird, was machbar ist und was sonst noch möglich sein könnte, aber vorerst noch in der Potentialität versteckt bleibt.(21) Surreale Food-Films wie Meat Love (1989) und Food (1992) des tschechischen Filmemachers Jan Švankmajer loten die Grenzen des Mediums aus, doch durch ihre effektvollen Störungen werden dieselben Grenzen immer weiter verschoben - man bewegt sich auf den Horizont (oder den Tellerrand) zu, ohne ihm jemals näher zu kommen.

Diese Aufklärung lässt zugleich die sozialen Beschränkungen erkennen, die durch das Kulinarische selbst generiert werden. Das Kulinarische Kino zeigt seinem Publikum, mit welchen Ungleichheiten eine Konzentration auf Sinn und Sinnlichkeit des Essens und Trinkens einhergehen kann. Die oben aufgeführten Kennzeichen des kulinarischen Kinos präsentieren mit den Bildern des Genießens auch moralische Ansprüche mit Aufforderungscharakter. Der Eintritt in die kulinarische Gemeinschaft ist nicht voraussetzungslos. Sie erwartet von ihren Mitgliedern durch eine spezifische Diätetik eine gewisse Lebensführung und stellt Ansprüche an ein kulinarisches Selbst, das distinktiv fungiert. Niemand kann Teil der kulinarischen Gemeinschaft werden, ohne die Seite zu wechseln: Vom rohen Nahrungsverschlinger muss man zum kultivierten Leser sinnlich-sinnhafter Codes werden. Insofern ist die kulinarische Gemeinschaft eine exklusive intellektuelle Gemeinschaft, die mit den Zeichen des Genusses spielt, diese neu kombiniert, transformiert oder geradezu umkehrt. An Filmen, die sich mit Kannibalismus auseinandersetzen, werden die Entgrenzungen und sozialen Mechanismen des Ein- und Ausschlusses sichtbar, die mit der Verpflichtung auf den kulinarischen Genuss einhergehen. Das Kulinarische trägt den Herrschaftscharakter jeder Aufklärung. Christoph Klotter(22) etwa hebt an Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) die dem Kulinarischen innewohnende Perversion und Zerstörung hervor: Das Kulinarische mag hochgradig vergesellend wirken, doch es ist stets auch zersetzend. Es trennt die kulinarische Gemeinschaft von den ihr Unwürdigen, denen sie das Stigma der Unmenschlickeit aufdrückt und damit die kulinarische Gemeinschaft zu einem Hort der Grausamkeit macht. An dieser Stelle findet der gastropolitische Diskurs über die in Küchen, an Tafeln oder Mahlgemeinschaften gefällten Geschmacksurteile seine Bezugs- und Anknüpfungspunkte.(23)

 

Kulinarische Geschmacksbildung

Man darf auf weitere Filme des kulinarischen Kinos gespannt sein. Und man kann sich in der Zwischenzeit ohne Zögern den Klassikern des kulinarischen Kinos widmen. Dabei handelt es sich nicht um einen „Griff in die Mottenkiste" sondern zumeist wirft man einen Blick auf noch immer aktuelle Werke der Filmgeschichte. Der bereits erwähnte Soziologe Niklas Luhmann schrieb - zugespitzt - über die Rolle der Medien: „Alles was wir über unsere Gesellschaft wissen, ja über die Welt, wissen wir durch den Massenmedien."(24) Das trifft ebenso auf das Wissen über Essen und über unser Essverhalten selbst zu. Nicht nur, dass wir kontinuierlich und aktiv Ernährungsratgeber, Kochbücher oder Internetforen zu Rate ziehen, um nach ihnen unseren kulinarischen Alltag zu gestalten. Wir bekommen auch Lust auf ein leckeres Essen, wenn wir sehen, wie es auf der Leinwand duftet und möchten dann vielleicht doch einmal Gerichte der Molekularküche probieren, nachdem wir uns die Dokumentation über Ferran Adrià, el Bulli - Cooking in Progress, angeschaut haben.(25) Sogar, wenn man vorher dieser Küche eher skeptisch gegenüber stand. Und nehmen wir uns, nachdem wir Super Size Me gesehen haben, nicht vor, doch nun einmal öfter einen Bogen um die nächste Fast-Food-Bude zu machen?

 

Das kulinarische Kino bietet uns die Möglichkeit zu ungewöhnlichen Expeditionen in alltägliche wie außeralltägliche Ernährungsformen und -praktiken und trägt damit auf eine unterhaltsame, hedonistische Art zur Ernährungs- und Geschmackbildung bei. Es ist Gastrotainment.

 

 

Literatur:

Alberth, Lars: Eine Familie und ihre Körper. Essensbezogene Gebrauchsweisen des Körpers in Louis Malles Eine Komödie im Mai. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 155-171

Dahl, Madeline: Essen als Nebensache. Über die narrativen Funktionen und Vorzüge von Codes aus dem Bereich der Ernährung im Film. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 27-43

Ehlert, Judith: Cinematographische Hedonismuskritik. Entwicklungssoziologische Betrachtungen zu Überfluss und Mangel. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 191-205

Föls, Maike-Maren: Literatur und Film im Fadenkreuz der Systemtheorie. Ein paradigmatischer Vergleich. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2003

Friedmann, Georges u. Morin, Edgar: Soziologie des Kinos. . In: montage AV 19/2 (2010). S. 21-42

Fröhlich, Gerrit: Die Liebe und der Magen. Luhmanns Liebessemantik am Esstisch. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 119-134

Gerhards, Lea: Warum Edward Cullen Diät hält. Zur Domestizierung des Vampirs in aktuellen Medientexten. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 215-232

Gross, Susan u. Legrand, Janine: Brust? Keule? Spaß? Ernst? Ein einführender Beitrag zu Claude Zidis Brust oder Keule. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 71-81

Heider, Fritz: Ding und Medium. . Kulturverlag Kadmos, Berlin 2005

Klotter, Christoph: Dunkle Welten - unentrinnbar. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 249-268

Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013

Kofahl, Daniel: Das Geschmacksurteil - Ein Beitrag zur Soziologie des Hedonismus. In: Kolmer, Lothar u. Brauer, Michael (Hrsg.): Hedonismus. Genuss - Laster - Widerstand? Mandelbaum, Wien 2013. S. 85-101

Kofahl, Daniel: Geschmacksfrage. Zur sozialen Konstruktion des Kulinarischen. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010

Kofahl, Daniel: Kulinarische Kommunikation im Kollektiv. Ein gastrocineastisches Essay zu Tampopo. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 99-116

Kracauer, Siegfried u. Panofsky, Erwin: Briefwechsel 1941-1966. Herausgegeben von Vokder Breidecker. Akademie-Verlag, Berlin 1996

Kubelka, Peter: Architektur und Speisenbau. In: Hagen Hodgson, Petra u. Toyka, Rolf (Hrsg.): Der Architektekt, der Koch und der gute Geschmack. Birkhäuser, Basel/Boston/Berlin 2007. S. 14-21

Lenz, Karl: Paare in Spielfilmen - Paare im Alltag. In: Mai, Manfred u. Winter, Rainer (Hrsg.): Das Kino der Gesellschaft - die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Zugänge. Halem, Köln 2006. S. 117-147.

Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997

Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. VS Verlag, Wiesbaden 2004

Luhmann, Niklas: Politik, Demokratie, Moral. In: Ders.: Die Moral der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. S. 175-195

Neumann, Gerhard: Filmische Darstellungen des Essens. In: Wierlacher, Alois u. Bendix, Regina (Hrsg.): Kulinaristik. Forschung - Lehre - Praxis. Lit-Verlag, Berlin 2008. S. 298-319

Peter, Peter: Die Delikatesse der Delikatessen. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 145-153

Pfaller, Robert: Geht es um Leben und Tod oder nur um das kleine Glück? Zu einer Grundsatzfrage des Materialismus. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 207-213

Rigotti, Francesca: Philosophie in der Küche. Kleine Kritik der kulinarischen Vernunft. C.H. Beck, München 2003

Schütze, Irene: Kochen als Kunst im Kino. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 45-59

Vilgis, Thomas: Vom Tricatel ins el Bulli - eine techno-cineastische Wegbeschreibung. In: Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit u. Alberth, Lars (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. Transcript, Bielefeld 2013. S. 83-98

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Quellen, Anmerkungen

  1. Vgl. Ehlert, Cinematographische Hedonismuskritik; sowie Pfaller, Geht es um Leben und Tod oder nur um das kleine Glück?.  
  2. Vgl. Groß u. Legrand, Brust? Keule? Spaß? Ernst?; sowie Vilgis, Vom Tricatel ins el Bulli.  
  3. Vgl. Luhmann, Politik, Demokratie, Moral, 194.  
  4. Vgl. Kofahl, Kulinarische Kommunikation im Kollektiv.  
  5. Vgl. Peter, Die Delikatesse der Delikatessen.  
  6. Vgl. Friedmann u. Morin, Soziologie des Kinos, 22.  
  7. Friedmann u. Morin, Soziologie des Kinos, 32.  
  8. Kracauer u. Panofsky, Briefwechsel 1941-1966, 16.  
  9. Vgl. Lenz, Paare in Spielfilmen, 123.  
  10. Luhmann, Politik, Demokratie, Moral, 281.  
  11. Vgl. Neumann, Filmische Darstellungen des Essens, 304ff.  
  12. Vgl. Dahl, Essen als Nebensache, 31ff.  
  13. Kubelka, Architektur und Speisenbau, 14.  
  14. Kofahl, Geschmacksfrage.  
  15. Vgl. Schütze, Kochen als Kunst im Kino.  
  16. Rigotti, Philosophie in der Küche, 40.  
  17. Vgl. Fröhlich, Die Liebe und der Magen.  
  18. Vgl. Alberth, Eine Familie und ihre Körper.  
  19. Vgl. Gerhards, Warum Edward Cullen Diät hält.  
  20. Föls, Literatur und Film im Fadenkreuz der Systemtheorie, 7f.  
  21. Vgl. Heider, Ding und Medium; Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 190ff.  
  22. Vgl. Klotter, Dunkle Welten - unentrinnbar.  
  23. Kofahl, Das Geschmacksurteil.  
  24. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 9.  
  25. Vgl. Vilgis, Vom Tricatel ins el Bulli.  
Filmstreifen. Foto: Bart