Logo Epikur - Journal für Gastrosophie
Zentrum für Gastrosophie Impressum

Vom Übermenschen zur sozialen Plastik - Hedonismus im Zeitalter der Selbstoptimierung

Benjamin BEREND.   

Hedonistische Lebenskunst kann als subversives Substitut zur herrschenden Kultur der Selbstoptimierung verstanden werden. Ihre zentralen Instrumente: Genuss, Gemeinschaft und Gelassenheit.

 

Selbstoptimierung

Wir leben im Zeitalter der Selbstoptimierung. Dies dokumentiert sich anhand zahlreicher zeitgenössischer Praktiken mittels derer wir versuchen, uns selbst in mannigfaltigen Lebensbereichen zu perfektionieren: Wir trainieren im Fitnessstudio oder gehen zum Yoga(1), um unsere Körper in die gewünschte Form zu bringen; wir unterziehen uns Schönheitsoperationen oder Wellnesskuren, bleachen oder bräunen je nach ästhetischer Präferenz; wir nutzen vermehrt Selftracking-Apps, um Diätpläne einzuhalten oder unsere guten Vorsätze zu erreichen; wir betreiben - auch im Privatleben - effektives Zeitmanagement, anstatt auszuschlafen machen wir Powernaps, wir versuchen, unsere Gesundheit mit Superfoods zu erhalten und zu steigern; wir erweitern kontinuierlich die Symbiose von Mensch und Maschine und erfreuen uns einer intensivierten Leistungsfähigkeit dank Neuro-Enhancement, während genoptimierte Übermenschen dank CRISPR/Cas-Methode nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen dürften. Der Wiener Philosoph Konrad Liessman fasste den allgegenwärtigen Optimierungs-Imperativ in einem Beitrag für die NZZ wie folgt zusammen:

Das Gedächtnis soll leistungsfähiger werden, mehr Informationen sollen in kürzerer Zeit verarbeitet werden, der Mensch soll sich schneller bewegen und ausdauernder werden, er soll seine Gesundheit, das heißt die entsprechenden Werte - Puls, Blutdruck, Fettablagerungen usw. - optimieren, er soll überhaupt länger leben, weniger schlafen und sich richtig ernähren.(2)

In Anbetracht der Vielfalt selbstoptimierender Praktiken liegt es nahe, die Bedingungen solchen Verhaltens in der Natur des Menschen zu vermuten. Und in der Tat: Die Psychologie verrät uns, dass menschlichem Handeln drei Basismotive zu Grunde liegen - Macht, Leistung und sozialer Anschluss.(3) Insbesondere das Leistungsmotiv scheint hier einen wichtigen Faktor für die Erklärung selbstoptimierenden Verhaltens zu bieten. Demnach ist es - wenn auch in individuell unterschiedlichen Konfigurationen - fest in unserer Psyche verwurzelt, unsere Leistungsfähigkeit zu zeigen und zu erhöhen.

Bei genauerer Betrachtung zeigen sich dementsprechend in der gesamten menschlichen Kulturgeschichte verschiedenste Formen des Optimierungshandelns, mittels derer wir schon seit Jahrtausenden versuchen, genuin menschliche Unzulänglichkeiten zu kompensieren. In diese Kategorie fallen die Erfindung von Werkzeugen und Prothesen ebenso wie jene des Rades, des Flugzeuges oder des Mobiltelefons. All diese Schöpfungen erlauben es uns Leistungen zu vollbringen (den Atlantik in nur wenigen Stunden zu überqueren, von jedem Punkt der Erde mit beliebigen Personen kommunizieren zu können und so weiter), die wir ohne sie nicht zustande brächten. Die eingangs angeführten Selbstoptimierungstechniken weisen dabei eigentümliche Charakteristika auf: Sie beziehen sich fast ausschließlich auf individuelle Handlungen zur Perfektionierung des je eigenen Selbst. Daher haftet ihnen gerade in der heutigen Zeit auch der Verdacht einer mehr oder weniger subtilen ökonomischen Selbstausbeutung an.

 

Selbstausbeutung

Als Bürger/innen westlich geprägter Gesellschaften wähnen wir uns im frühen 21. Jahrhundert als privilegierte Individuen, da wir abgesehen von materiellem Wohlstand mit zahlreichen positiven und negativen Freiheiten ausgestattet sind: Rede- und Versammlungsfreiheit, Eigentumsfreiheit, freie Wahlen, zunehmende Freiheit von Geschlechterstereotypen und -hierarchien, Freiheit von ideologischer Unterdrückung und einstigen sexuellen Restriktionen, Religionsfreiheit, Freiheit der Berufswahl und Marktfreiheit. Unserem Empfinden nach sind wir frei. Dem Philosophen Byung-Chul Han zufolge ist diese gefühlte Freiheit jedoch in dialektischer Manier mit Unfreiheit verschränkt. Gerade weil wir heute alle Freiheiten haben, so Han, spüren wir nämlich auf der anderen Seite einen allgegenwärtigen Druck, etwas aus unserem Leben machen zu müssen, uns kontinuierlich neu zu erfinden und weiterzuentwickeln:

Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes, neu erfindendes Projekt sind. Dieser Übergang vom Subjekt zum Projekt wird vom Gefühl der Freiheit begleitet. Nun erweist sich dieses Projekt selbst als eine Zwangsfigur, sogar als eine effizientere Form der Subjektivierung und Unterwerfung. Das Ich als Projekt, das sich von äußeren Zwängen und Fremdzwängen befreit zu haben glaubt, unterwirft sich nun inneren Zwängen und Selbstzwängen in Form von Leistungs- und Optimierungszwang.(4)

Han argumentiert, dass Selbstoptimierung in letzter Konsequenz nichts als die effizientere Form von Ausbeutung sei. Viele der eingangs erwähnten Praktiken dienen in der Tat dazu, markt- und konkurrenzfähig zu sein. Die Formel lautet sinngemäß: penibles Zeitmanagement plus Self-Enhancement-Drugs plus viermal wöchentlich Fitnessstudio gleich mehr Leistung in weniger Zeit. Wir optimieren also unsere individuellen Ressourcen, um unsere Arbeitskraft besser auf dem Markt verkaufen zu können. Das globalisierungskritische Netzwerk attac beschreibt diesbezüglich den modernen Angestellten wie folgt:

Er ist Manager des Projekts und seiner Selbst - in einem andauernden Prozess der 'Selbstoptimierung': indem er ständig das Bestmögliche (für seinen Arbeit-'geber'!) aus sich herausholt. Was zuvor äußere Zwänge im Arbeitsleben waren, wird zunehmend verinnerlicht - im Sinne der Selbststeuerung und Eigenverantwortung. Der Mitarbeiter wird nicht mehr von befehlenden Chefs beaufsichtigt, sondern von sanft gängelnden Coaches (Beratern und Trainern) 'begleitet'. Seine unendliche Flexibilität und Anpassungsbereitschaft zeigt sich im Willen zum ständigen Wandel ('Change'), zum Wechsel des Ortes, zum wiederholten Neubeginn, zum unaufhörlichen 'lebenslangen' Lernen.(5)

Diese Form der betreuten Selbstausbeutung ist Han zufolge äußerst wirksam:

Der Neoliberalismus ist ein sehr effizientes, ja intelligentes System, die Freiheit selbst auszubeuten. Ausgebeutet wird alles, was zu Praktiken und Ausdrucksformen der Freiheit gehört wie Emotion, Spiel und Kommunikation. Es ist nicht effizient, jemand gegen seinen Willen auszubeuten.(6)

Demnach spüren wir als freie Akteure in einer Marktgesellschaft nicht nur den Zwang, uns fortwährend marktkonform zu optimieren, sondern es wird auch noch die letzte freiheitliche Praktik ökonomisiert. In diesem Kontext beobachtet Han zudem einen Wandel, welcher sich von der Biopolitik hin zu einer Psychopolitik vollziehe. Foucault beschrieb bekanntlich biopolitische Dispositive, deren strategisches Wirken darauf gerichtet war, die Produktivkraft des menschlichen Körpers (zum Beispiel durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen) effizient zu verwalten. Foucault spricht von „<...> der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte <...>".(7)Gegenwärtig stehe jedoch, so Han, vielmehr die Psyche als begehrtes Ausbeutungsobjekt im Fokus:

Der Körper als Produktivkraft ist nicht mehr so zentral wie in der biopolitischen Disziplinargesellschaft. Zur Steigerung der Produktivität werden nicht körperliche Widerstände überwunden, sondern psychische oder mentale Prozesse optimiert. Die körperliche Disziplinierung weicht der mentalen Optimierung. So unterscheidet sich das Neuro-Enhancement grundsätzlich von den psychiatrischen Disziplinartechniken.(8)

Hans These der Assimilierung psychischer Ressourcen in die Logiken ökonomischer Ausbeutung kann einerseits auf bereits genannte Praktiken wie Neuro-Enhancement, Self-Tracking, Motivationscoachings oder Stressmanagement bezogen werden. Darüber hinaus ist Hans Argumentation in Bezug auf unverdächtige Bereiche wie das Spiel, die Kommunikation oder die Emotionen (siehe oben) ebenso schlüssig, auch wenn sie lediglich ein Update der Habermas'schen These von der Kolonisierung der Lebenswelt darstellt. Es fällt nicht schwer, Beispiele für die Ökonomisierung dieser lebensweltlichen Sphären zu finden: Kommunikationsinhalte und -strukturen werden zum Beispiel von den Betreibern digitaler sozialer Netzwerke ökonomisch verwertet. Die kosmopolitische Gastfreundschaft im Stile von „couchsurfing" weicht dem ökonomischen Pendant „airbnb".(9) Zunehmend wird versucht, das Prinzip des Spielens für Arbeitskontexte nutzbar zu machen - Gamification lautet das Stichwort. Und die Ideologie der positiven Emotionen beschreibt Jürgen Wiebicke in seinem Band über die Perfektionierung des Menschen folgendermaßen:

Negative Stimmungen schlagen in der Arbeitswelt auf die Motivation, folglich ist eine „Umerziehung des emotionalen Gehirns" anzuraten, durchaus auch mithilfe von Psychopharmaka. <...> Die Emotionen, die auf diese Weise bewirtschaftet werden, sind angenehm für den arbeitenden Menschen und zugleich nützlich für betriebs-wirtschaftliche Zwecke. Insofern sind Freiheit und Fremdbestimmung hier eigenartig miteinander verschränkt. Es arbeitet sich angenehmer als im alten Industrie-kapitalismus, aber die Zwänge, die damals äußerliche waren, sind nicht einfach verschwunden, sondern ins Innere gewandert. Der Kapitalismus als lernendes System ist einen Schritt weiter. Er hat auf Kritik erfolgreich reagiert.(10)

Byung-Chul Han skizziert am Ende seiner Ausführungen die (digitale) Idiotie als eine subversive Lebenskunst. Dennoch bleibt seine Perspektive in weiten Teilen leider eine pessimistische: Was auch immer wir tun, um uns selbst zu verbessern, wie auch immer wir versuchen, uns zu uns selbst oder zur Welt zur verhalten - immer sitzen wir in der Falle einer allgegenwärtigen neoliberalen Ökonomisierung. Aus epikureischer Sicht stellen sich daher die folgenden Fragen im Anschluss an seine Ausführungen: Sind nicht auch Formen eines auf Optimierung zielenden Selbstverhältnisses denkbar, welche sich dem Zugriff der Ökonomisierung entziehen? Und wenn nicht: Welche Gründe sprechen dafür, Selbstoptimierung zu betreiben?

 

Selbstsorge

Wenn zu Beginn von selbstoptimierendem Verhalten als einer kulturellen Konstante menschlicher Gesellschaften die Rede war, so sind an dieser Stelle die Ethiken zu erwähnen, welche ja in der Regel ausdrücklich dazu ersonnen wurden, den Menschen in Bezug auf sich selbst und im Hinblick auf seine Rolle in einem sozialen Ordnungsgefüge zu optimieren. Wozu hätten Philosophen aller Zeiten moralische Appelle, kategorische Imperative oder großspurige Tugendkataloge formulieren sollen, wenn sie nicht einen erheblichen Optimierungsbedarf bei sich selbst und/oder ihren Zeitgenossen festgestellt hätten? Analog zum Erwerb von Optimierungskompetenzen, welche wie das Zeitmanagement vorwiegend der Effizienzlogik verpflichtet sind, setzt dabei auch der Erwerb klassischer Tugenden wie Gerechtigkeit, Mäßigung oder Klugheit entsprechende Unterweisungen, Selbstreflexion und aneignende Lernerfahrungen voraus.

Somit liegt die Hypothese nahe, dass Selbstoptimierung und Ethik letztlich zwei Seiten derselben Medaille sind. Schließlich stehen beide Begriffe stellvertretend für die Auffassung, dass der Mensch so wie er ist nicht ausreicht. Möglicherweise besteht jedoch ein entscheidender Unterschied in dem jeweils zugrunde liegenden Narrativ. Derzeit dominierende Formen von Selbstoptimierung sind augenscheinlich tief in die Mythen kapitalistischer Leistungsgesellschaften verstrickt. Die korrespondierenden Narrative der Selbstgestaltung reproduzieren dementsprechend gesellschaftliche Imperative der Schönheit, Fitness, Gesundheit, Effizienz oder Teamfähigkeit.

Obschon diese Mythen (allen voran Wachstumsorientierung und wirtschaftlicher Erfolg sowie Erfüllung durch Arbeit und Konsum) einen festen Bestandteil unserer „mentalen Infrastrukturen"(11)bilden, erfahren sie keine flächendeckende Wertschätzung in der Gesellschaft. Aus soziologischer Sicht mag dabei der Wandel hin zu den postmaterialistischen Werten eine Rolle spielen. Vor allem aber stellen Begleit- beziehungsweise Folgeerscheinungen unseres gegenwärtigen Wirtschaftsmodells wie Ressourcenübernutzung, Ausbeutung, Klimawandel, Ressourcenkriege, Burn- beziehungsweise Bore-Out(12), Ignoranz und wachsende soziale Ungleichheit(13)Gründe für viele Zeitgenossen dar, alternative Lebens- und Wirtschaftsformen zu erproben. Der Ex-Konzernmanager, der sich nach dem Burn-Out als Bio-Landwirt auf einer Alm verdingt, ist dabei schon beinahe so etwas wie ein Klischee des frühen 21. Jahrhunderts.

Im Kontext der gegenwärtigen Suchbewegungen hin zu alternativen Lebensformen kommt aber auch ein weniger klischeebehaftetes philosophisches Prinzip ins Spiel, welches Michel Foucault in seinem Spätwerk als „Selbstsorge" bezeichnet und beschrieben hat.(14)Seine Darstellung der Selbstsorge gleicht einer Werkschau antiker Praktiken der Selbstgestaltung, welche zum Großteil aus der hellenistischen Antike stammen. Aufgrund ihrer historischen Verortung sind die Techniken der Selbstsorge im Unterschied zu vielen der oben skizzierten Selbstoptimierungstechniken frei von dem Verdacht, Werkzeuge der Selbstausbeutung zu sein. Vielmehr stellen sie Elemente philosophischer Ideen des guten Lebens dar. Praktiken der Selbstsorge beinhalten sowohl Elemente der Selbstmächtigkeit beziehungsweise des Selbstgenusses, wie Foucault im Hinblick auf Seneca ausführt(15), schließen aber auch andere mit ein, und sind daher nicht - wie gelegentlich unterstellt(16) - als narzisstisches Unterfangen zu verstehen:

<...> um die Sorge um sich hat sich ein ganzer Rede- und Schreibbetrieb entwickelt, in dem die Arbeit eines an sich selber und die Kommunikation mit dem anderen verbunden sind. Wir berühren hier einen der wichtigsten Punkte dieser einem selber gewidmeten Tätigkeit: sie bildet nicht eine Übung in Einsamkeit, sondern eine wahrhaft gesellschaftliche Praxis.(17)

In seiner späten Vorlesung „Hermeneutik des Subjekts" beschreibt Foucault beispielsweise die epikureische pharrhesia als eine spezifische Form des Kommunizierens „<...> mit einer Öffnung des Herzens, einer Öffnung der Seele <...>".(18)Auch wenn die epikureische Schule in Foucaults Spätwerk vergleichsweise wenig Beachtung findet, liefert gerade diese Tradition samt ihrer modernen Nachfahren interessante theoretische und praktische Beiträge zur Selbstsorge. Interessant deshalb, weil die Praktiken und Reflexionen neoepikureischer beziehungsweise hedonistischer Selbstsorge sich recht deutlich von Praktiken einer effizienzorientierten Selbstoptimierung unterscheiden lassen. Hedonistische Selbstsorge steht gleichsam für Expertentum in Sachen Lust und Lebensgenuss.(19)Aus einem solchen Blickwinkel betrachtet wohnt den meisten der eingangs genannten Selbstoptimierungspraktiken eine subtile Tragik inne, denn was dort häufig zelebriert wird, ist zwar eine Form des Genießens, jedoch ein „Genuss des Aufschubs"(20)und kein Lebensgenuss im hedonistischen Sinne. Genossen wird dabei die eigene Selbstdisziplin, im Gegensatz zu beispielsweise einem leckeren Essen, einem gemütlichen Gespräch oder einer durchfeierten Nacht mit Freunden. Robert Pfaller zufolge leben wir „<...> in einer Kultur, in der asketisches Verhalten als Zeichen von Höherstellung gesehen wird gegenüber hedonistischem Verhalten."(21)Die Philosophin Svenja Flaßpöhler beobachtet diesbezüglich das Phänomen der „Wohlstandsaskese": „Der Wohlstandsasket schnallt den Gürtel nicht enger, weil er muss, sondern weil er sich gefällt in der freiwilligen Geste der Entsagung."(22)Daher, so Flaßpöhler weiter, werde Genuss in unserer Kultur auch zunehmend mit Wellness und leistungsförderlicher Genesung verwechselt, wobei letztere „<...> selbst Einläufe und Fastenkuren als Vergnügen deklariert."(23)

Wirkliches Genießen - etwa in Form ritualisierter Übertretungen des Alltags, gemeinschaftlicher Freude, gelassenem Lebenswandel oder auch Rausch und Ekstase - wird in der Leistungsgesellschaft offensichtlich weniger geschätzt und gerät angesichts der mannigfaltigen Formen des Optimierungsdenkens eher ins Abseits.

Dabei liegt auch dem Prinzip hedonistischer Selbstsorge die Idee zugrunde, dass ein lustvolles Leben gezielter Übung bedarf. Diese Einsicht teilte bereits Epikur mit seinem Schüler Menoikeus: „Darum tue Du, was ich Dir ständig anempfohlen habe, und übe Dich darin und sei gewiss, dass es die Grundbedingungen für ein wahrhaft schönes Dasein sind."(24)Ein gutes Leben beruht demnach auf Selbstsorge in Form optimierender Lebensvollzüge. Der Fokus dieser Praktiken liegt in der Antike insbesondere in der Kultivierung von Seelenruhe (Ataraxie), der besonderen Bedeutung von Freundschaft sowie einem besonnenen Umgang mit den Lüsten. Der Philosoph Aristipp bemerkte zum letzteren Punkt:

Die Lust beherrscht nicht, wer sich enthält, sondern wer sie genießt, sich aber nicht mitreißen lässt; wie auch Schiff und Pferd nicht beherrscht, wer sie nicht nutzt, sondern wer sie lenkt wohin er will.(25)

Aufgrund ihrer naturalistischen Grundorientierung gingen die antiken Hedonisten außerdem davon aus, dass der Tod die endgültige Aufhebung aller sinnlichen Empfindungen darstellt.

Postmortale Paradiese werden nicht erwartet. Die daraus folgende Ausrichtung auf eine endliche Lebenszeit führt die Hedonisten zu der Frage, ob es ein Leben vor dem Tod gibt. Horaz hat sie mit seinem berühmt gewordenen Satz des „Carpe Diem" am prägnantesten beantwortet. Unabdingbar für einen genießenden Lebensvollzug schien bei den Epikureern besagte Gelassenheit (Ataraxie) zu sein. Dabei sind die Kultivierung des Bewusstseins, dass es wenig Aufwand bedarf, um glücklich zu sein sowie eine dezentrierte, auf Beziehungen zu anderen Menschen ausgerichtete Seinsweise zentral. Peter Sloterdijk hat letzteren Aspekt der Gelassenheit folgendermaßen beschrieben:

Gelassenheit meint Passivitätskompetenz - sie ist die kleine Münze des Könnens, das größere Passionen trägt <...> In Wahrheit gehört das passivitätskompetente Verhalten zur Spielintelligenz von Menschen in einer entfalteten Netzwelt, in der man keinen Zug machen kann, wenn man nicht zugleich mit sich spielen lässt. Gelassenheit in diesem Sinn ist untrennbar vom Selbstverständnis erfahrener Akteure, für die die philosophische Schimäre des Subjekts, das in der Mitte seiner Handlungskreise residiert, verblasst ist, besser: ihren Gebrauchswert als diensthabende Selbstbeschreibung verloren hat.(26)

In unserem Kontext könnte man diese Passivitätskompetenz als das weise Bewusstsein begreifen, eben nicht autonom über die Bedingungen des Genießens verfügen zu können. Die Epikureer gehörten nicht ohne Grund zu jenen Philosophenschulen, welche die Freundschaft als eines der höchsten Güter betrachteten.(27)Genussfähig sind wir aus epikureischer beziehungsweise hedonistischer Sicht also erst dann, wenn wir auch die Beiträge von anderen zur eigenen Lebensfreude dankbar annehmen können. Der Künstler Joseph Beuys bezeichnete die kreative Gestaltung von Beziehungen im Rahmen seines erweiterten Kunstbegriffs einmal als „soziale Plastiken" - und lieferte damit eine sehr passende Metapher für hedonistische Intersubjektivität. Möglicherweise liegt gerade in der damit einhergehenden Abkehr des Blicks vom eigenen selbst hin zum anderen eine kluge Alternative zur heute oft so angestrengt selbstzentriert anmutenden Suche nach dem Glück.

 

 

Literaturverzeichnis

Bude, Heinz: Die neue soziale Spaltung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.04.2016. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/soziale-ungleichheit-in-deutschland-trotz-starker-wirtschaft-14169768.html.

Cramer, Holger: Yoga in Deutschland - Ergebnisse einer national repräsentativen Umfrage. In: Forschende Komplementärmedizin 22 (2015). S. 304-310. DOI: 10.1159/000439468.

Flaßpöhler, Svenja: Wir Genussarbeiter. Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.

Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Band 1. Der Wille zum Wissen. In: Michel Foucault, Axel Honneth u. Martin Saar (Hg.): Die Hauptwerke. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.

Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Band 3. Die Sorge um sich. In: Michel Foucault, Axel Honneth u. Martin Saar (Hg.): Die Hauptwerke. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.

Foucault, Michel u. Bokelmann, Ulrike: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009.

Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Fischer, Frankfurt am Main 2014.

Han, Byung-Chul: Neoliberales Herrschaftssystem. Warum heute keine Revolution möglich ist. In: Süddeutsche Zeitung, Online verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/‌politik/‌neoliberales-herrschaftssystem-warum-heute-keine-revolution-moeglich-ist-1.2110256 (17.03.2017).

Kanitscheider, Bernulf: Das hedonistische Manifest. Hirzel, Stuttgart 2011.

Liessmann, Konrad: Bilden, optimieren, perfektionieren. Über neue Menschen, Bioingenieure und Transhumanisten. In: Neue Züricher Zeitung. Online verfügbar unter: http://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/ueber-neue-menschen-bioingenieure-und-transhumanisten-1.18615395 (15.01.2017).

McClelland, David Clarence: Human motivation. Cambridge University Press, Cambridge 2009.

Pfaller, Robert: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002.

Pfaller, Robert: Kurze Sätze über gutes Leben. Fischer, Frankfurt am Main 2015.

Sinus-Institut: Sinus-Milieus Deutschland. Online verfügbar unter: http://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/ (15.01.2017).

Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2009.

Welzer, Harald: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer, Frankfurt am Main 2014.

Werle, Josef M. (Hg.): Epikur für Zeitgenossen. Ein Lesebuch zur Philosophie des Glücks. Goldmann, München 2002.

Wiebicke, Jürgen: Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Gegen die Perfektionierung des Menschen - eine philosophische Intervention. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.

Berend (197k)

Quellen, Anmerkungen

  1. Derzeit sind schätzungsweise 15,7 Mio. Deutsche entweder bereits im Yoga aktiv oder daran interessiert, mit der Yogapraxis zu beginnen. Vgl. Cramer, Yoga in Deutschland, 304.  
  2. Liessmann, Bilden, optimieren, perfektionieren.  
  3. Vgl. McClelland, Human Motivation, 221-372.  
  4. Han, Psychopolitik, 9.  
  5. Attac, Selbstoptimierung.  
  6. Han, Psychopolitik, 11.  
  7. Foucault, Der Wille zum Wissen, 1131.  
  8. Han, Psychopolitik, 39.  
  9. Han, Neoliberales Herrschaftssystem.  
  10. Wiebicke, Dürfen wir so bleiben, 139-140.  
  11. Vgl. Welzer, Selbst Denken, 64. Harald Welzer bezeichnet mit diesem Begriff die Summe der Gewohnheiten und Routinen, welche in der Regel stärker sind als kognitive Einsichten: „Dies ist exakt der Punkt, an dem Aufklärung an ihre Grenze stößt und immer gestoßen ist: Sie erreicht nämlich lediglich den kognitiven Teil unseres Orientierungsapparats; der weitaus größere Teil unserer Orientierungen, der über Routinen, Deutungsmuster und unbewusste Referenzen - soziologisch gesprochen: über den Habitus - organisiert ist, bleibt davon völlig unberührt."  
  12. Bore-Out bezeichnet eine kontinuierliche Unterforderung am Arbeitsplatz, welche als belastend erfahren wird.  
  13. Vgl. Bude, Die neue soziale Spaltung.  
  14. Vgl. Foucault, Die Sorge um sich.  
  15. Vgl. ebd., 1430.  
  16. Pfaller, Lustprinzip in der Kultur, 251.  
  17. Foucault, Die Sorge um sich, 1417.  
  18. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 477.  
  19. Vgl. dazu Kanitscheider, Manifest, 51-52.  
  20. Pfaller, Lustprinzip in der Kultur, 249.  
  21. Pfaller, Sätze über gutes Leben, 39. Vgl. dazu auch die Definition der Hedonisten in den Sinus-Milieus als spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht: Sinus-Institut, Sinus-Milieus Deutschland.  
  22. Flaßpöhler, Genussarbeiter, 38.  
  23. Ebd., 48.  
  24. Vgl. Werle, Epikur, 11.  
  25. Pfaller, Lustprinzip in der Kultur, 248.  
  26. Sloterdijk, Leben ändern, 594.  
  27. Vgl. Werle, Epikur, 30.