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Clamirre essen … oder Über die Taubblindheit beim Beschreiben kulinarischer Altertümer, vom Riechen erst gar nicht zu reden. Eine Glosse über fehlende Sinnesmodi

Richard ZAHNHAUSEN.   

Claude Lévi-Strauss schreibt in seinem zu Recht klassisch gewordenen Aufsatz vom Kulinarischen Dreieck ("The culinary triangle", 1966): „And we know from some incidents that followed the Allied landings in 1944 that American soldiers conceived the category of the rotted in more extended fashion than we, since the odor given off by Norman cheese dairies seemed to them the smell of corpses (Hervorhebung RZ), and occasionally prompted them to destroy the dairies." Lévi-Strauss gibt für diese Geschichte keine Quelle an, wir haben die starke Vermutung, dass es sich um Hörensagen handelt. Die ländlich-normannische Form einer „urban legend". Natürlich ist der Satz kulinaristisch mehrdimensional: die US-Boys, an keimfreie industriegefertigte Nahrung gewöhnt, reagieren auf die nichtdeodorierten Wohlgerüche französischer Käsereien mit Panikattacken. Außerdem geht es natürlich auch um die Dichotomie „verfault vs. frisch", ein Strukturelement des Aufsatzes. Die GIs, Kadaver vermutend, wo Camembert vor sich hinduftet, zerstören die Molkereien. A Clash of Cultures avant la lettre ...

Im „Meier Helmbrecht" (um 1270) werden im paradigmatischen Vater-Sohn-Gespräch auch die, nach Meinung des Vaters standeswidrigen, Essensvorlieben des jungen Helmbrecht verhandelt. Dabei wird unter anderem „clamirre" erwähnt. Die Erzählung gibt hier, ganz nebenbei, auch schönes, frühes Beispiel angewandter Klassensoziologie der Ernährung. Clamirre wird ausdrücklich als österreichisches Gericht erwähnt. Seit Jahrzehnten gibt es gelehrten Streit darüber, was clamirre denn eigentlich gewesen sei. Der Stand der Dinge, soweit ich ihn übersehe, ist, dass es sich dabei um eine Art „Arme Ritter" (Pofesen) handeln soll: Eine beliebige Füllung, die Sekundärliteratur schwankt zwischen Hirn und Marmelade, wird zwischen Weißbrotscheiben gegeben, in Ei gewendet und gebacken.

Was diese beiden so disparaten Dinge, den Camembert-Geruch und clamirre, verbindet, ist die Unmöglichkeit, Duft- und/oder Sinneserlebnisse schriftlich, historiographisch, darzustellen. Und genauso wenig können wir die mentale Wirkung von clamirre auf die beiden Helmbrechts nachempfinden. Seit dem „culinaric turn" der Kulturwissenschaften sind auch schon wieder einige Jahrzehnte vergangen - und was als Kulturwissenschaft weggesprintet ist, humpelt als Literaturgeschichte vor unser Angesicht! Eine Literaturgeschichte, die sich für ihre Lücken jede Menge Mut zusprechen muss!

Auch Lévi-Strauss' Werk ist, wenn man vom spekulativen strukturalistischen Überbau absieht, nichts anderes als eine monumentale Mythenkompilation. Nebenbei: Die List der Geschichte, na ja, eher der EU, hat seine kleine Anekdote rasch veralten lassen: Die Käsereien der Normandie sind durch die Vereinheitlichung der Rinderrassen, des Rinderfutters und der Molkereihygiene ziemlich geruchlos geworden. Die GIs würden sich wie daheim fühlen ...

Die Unmöglichkeit, Aussehen, Geruch und Geschmack graphematisch darzustellen, ist als Erkenntnis trivial und nicht weiter interessant - wenn es nicht poetisch gelungene Beispiele gäbe, billigerweise könnte man hier Proust erwähnen: function follows form! Nur, die Prousts unter den Kulturwissenschaftlern sind seltener als ein 1961er Château Petrus. Mindestens.

 

Wenn man diese punktuellen (Schein-?)Probleme ausweitet, fällt immerhin auf, dass, zum Beispiel, die japanische Küche nur sehr schwach olfaktorisch codiert ist. Aber auch die klassische französische Hotel- und Restaurantküche ist keine Duftküche, im starken Gegensatz zur italienischen Küche. Oder zu den Balkanküchen. Möglicherweise beruht der Unterschied darauf, dass bei den (abgesunkenen) Adelsküchen der sich in den Möbelstoffen, Vorhängen und Roben festsetzende Speisengeruch ein „no go" war. Wobei der Geruch, die Gerüche, obwohl deren Wahrnehmung tief im Stammhirn lokalisiert ist, sowieso stark an Prestige verloren haben. Soweit es sich um natürliche animalische, aber auch menschliche, Gerüche handelt und trotz der Tatsache, dass sich Menschen eher an den Geruch ihrer Lieblingsspeisen erinnern. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte - angeblich - die berühmte Wiener Konditorei Demel eigens einen Ventilator in die Backstube eingebaut, der beim Backen des Apfelstrudels den Duft auf die Straße blies. Heute würde man dies als öffentliche Belästigung schnell abstellen.

Wenn schon die Modi des Geschmacks und des Geruchs nicht darstellbar sind: Für die Optik gilt dies nicht. Dementsprechend fluten die überkompensierenden kulinarischen Bilderbücher den Planeten. (Wobei der optische Appellcharakter sich zwanglos zu dem der Supermodels, männlicher und weiblicher, gesellt: In den allermeisten Fällen ist ein befriedigender Nachvollzug den Normalsterblichen absolut unmöglich.) Die historische Tiefe hinter diesen Bilderbüchern ist aber hohl und leer! Bis weit ins 20. Jahrhundert sind die Speisenabbildungen alles andere als appetitanregend! Wobei seit dem Barock ja eher Tafeln und große festliche Anlässe einer Darstellung für würdig befunden wurden. Wenn man sich die mikroarchitektonischen Speisen-Tagträume Carêmes zu Gemüte führt, immerhin eines, wenn nicht des Kirchenvaters der Grande Cuisine, so stellt sich Esslust nur sehr zögerlich ein.

So bleibt die Erkenntnis, dass, gemessen am Gegenstand, das Schreiben übers Essen dürre Kärrnerarbeit bleiben wird. Aber auch eine historische Soziologie der Ernährung selbst wird eine Behauptungswissenschaft bleiben, weil wir, um Wittgenstein zu paraphrasieren, nicht den Geschmack im Munde eines anderen nachfühlen können. Da überdies der Textkorpus der eigentlichen Quellen ziemlich beschränkt ist, besteht immer die Gefahr einer Kulinarscholastik. Aber auch hier hilft die Vermutung, dass Sisyphos ein glücklicher Mensch war ...

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