Logo Epikur - Journal für Gastrosophie
Zentrum für Gastrosophie Impressum

LEMKE Harald, OGAWA Tadashi (Hg.): Essen - Wissen. Erkundungen zur Esskultur. Iudicium Verlag, München 2008.

KOLMER Lothar.   

Der schmale Band enthält nach dem Prolog von Harald Lemke „Vom Nutzen der Philosophie fürs Essen" acht Aufsätze, die das Thema in verschiedenen Zugängen behandeln. Lemke thematisiert dort den heute noch vorhandenen Glauben, es sei „kein größerer Gegensatz vorstellbar ... als der zwischen Ernährung und Erkenntnis, zwischen Geschmack und Philosophie, Essen und Denken". Dies entlarvt er als einen „Scheinwiderspruch", denn: „Alles am Essen ist Wissen." Die Reflexion des Wissens und auch des gastrosophischen Wissens sei eine genuine Aufgabe der Philosophie.

Wilhelm Schmid, „Ethik der Ernährung - als Element der Lebenskunst in einer anderen Moderne". Schmid will Philosophie und Lebenskunst wieder aufeinander beziehen und eine Philosophie der Lebenskunst neu begründen. Damit meint er „das Innehalten und Nachdenken über die Grundlagen und möglichen Formen eines bewusst geführten Lebens" (S. 16). In die früheren normativen Festlegungen stellt er nun das Optative; er fordert Überlegungen, um eine Wahl zu ermöglichen, vor der sich die Individuen der Moderne gestellt sehen. Mittlerweile seien wir „befreit von ..." und „frei für ..."; das stelle die Menschheit vor wichtige Entscheidungen, welche die „äußere Ökologie der Welt" und die „innere Ökologie des einzelnen Individuums" (sic!) betreffen. Jeder müsse sich für seine Ernährung bewusst entscheiden - und die entsprechenden Konsequenzen in Kauf nehmen. Wichtig sei die Orientierung am Schönen, das wird definiert: „Schön ist das, was bejahenswert erscheint" (S. 27). Darum solle das Leben so gestaltet werden, dass es bejahenswert sei.

Klaus Held, „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen", fragt nach dem Sinn des Sprichworts und dem Gegenteil, wenn Leib und Seele auseinandertreten. Dafür klärt er die Begriffsaspekte von „Seele". Ein Verständnis meint ‚Leben im Körper'. Wird der Körper am Leben erhalten, dann damit auch die Seele. Ein anderer Aspekt bedeutet das ‚geistige Leben' der Menschen. Werden Essen und Trinken zu bloßer Bedürfnisbefriedigung, treten Leib und Seele auseinander. Aus diesen Gedankengängen erfolgt eine heftige Kritik an der Fast-Food-Mentalität, der Standardisierung des Geschmacks. Vor allem gemeinsame Mahlzeiten mit optisch-ästhetischer Gestaltung könnten Geist und Körper zusammenhalten. Denn der Verlust der Gemeinschaftlichkeit und der der Ästhetik sind Bedrohungen für die Gesellschaft. Internationale Küche führt zum Niedergang der kulturgebundenen Kochkunst, es entstehen kastrierte, neutrale Produkte (S. 46). Am Ende steht die Aufforderung, die regionale Kochkunst zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Rudolphe Gasché, „Figur oder Form. Perspektive des Magens", untersucht den Stellenwert des Essens im Denken Immanuel Kants. In der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" liege durchaus die begriffliche Möglichkeit zu einer Ästhetik eines kulinarischen Geschmacks. Der Geschmack könne somit ein Schema für die Gesamtheit des Denkens abgeben.

Alois Wierlacher, „Die Interkulturalität der Kulinaristik - zur Aktualität kulinarischer und interkultureller Bildung", stellt das Konzept der von ihm entwickelten Kulinaristik vor. Essen sei zu einer Erkenntnis- und Selbstbildungsquelle machen, dafür interkulturelle Bildung zu vermitteln. Gerade angesichts der dynamischen Globalisierung muss der Sprache des Kulinarischen Ausdruck und Geltung verschafft werden.

Anke Haarmann, „Assimilation des Anderen: Verdauen im interkulturellen Vergleich". Ein Nahrungsmittel ist etwas Fremdes, das wir uns dauernd einverleiben. Fremdes stößt der Körper aber ab - nicht jedoch Nahrungsmittel. Die Autorin betont, dass wir nicht Nahrungsmittel, sondern unser Verhältnis zum Fremden verdauen. Das illustrieren vier Verdauungsmodelle aus vier verschiedenen Epochen und Kulturräumen, von Galen über Descartes bis hin zum zeitgenössischen symbiotischen Modell.

Schinji Kajitani, „Konzept der Gesundheit und Kontext der Diätetik in ostasiatischer Medizin", stellt das um 984 verfasste und von der traditionellen chinesischen Medizin beeinflusste Werk des Hofarztes Ishimpo vor. Für die Pflege des Leibes und des Lebens braucht es eine gesunde Ernährungsweise, dazu die Grundprinzipien der Lebenspflege. Diverse Techniken sollen die heilsamen Einflüsse stärken oder unheilvolle abwehren. Die Gefühle sind einzuregulieren, schädliche zu vermeiden. Das bedeutet eine gewisse Kontrolle des Verlangens und der leiblichen Regungen. Ziel ist der Zustand von Harmonie. Diese gilt es im Alltag „durch dauernde Aufmerksamkeit" und Anpassung an die sich wandelnde Umgebung zu halten und zu fördern. Das Essen spielt hierbei eine wesentliche Rolle.

Tadashi Ogawa, „Das Essen im hochtechnisierten Zeitalter", führt in erschreckender Weise vor, wie der japanische Lebensstil von einer ‚Macdonaldisierung' dominiert wird. Über die industrielle Nahrungsproduktion endet das bei der Uniformität des Geschmacks - und über die in wenigen Minuten verschlungenen Mahlzeiten bei der akuten Schwächung des Magens. Dagegen stellt der Autor Stil und die Ästhetik als teleologisches Prinzip, das zum Essen animiert. Im Argumentationsgang greift er weit aus, zurück zur aristotelischen Metaphysik. Letztlich geht es um Genuss in vollen Zügen im ästhetischen Rahmen. So kann man im aristotelischen Sinne sagen, ein Genießender zu sein.

Harald Lemke, „Die japanische Zen-Kunst des Essens", fragt auch hier, warum es keine japanische Zen-Kunst des Essens gibt, obwohl mit dem Zen-Lehrer Dogen (1200-1250) schon Ansätze dafür vorlagen. Ließe sich daran anknüpfen, könnte ein „Weg des Essens" beschritten werden, hin zu einer „kulinarischen Lebenskunst", einer „guten, alltagsethischen Lebenspraxis".

Die gesammelten Aufsätze machen deutlich, wie es wo um diese „Lebenskunst" bestellt ist, wie weit wir uns davon entfernt haben und wie sie sich gewinnen ließe. Daraus sind lebhafte Anregungen für das Denken, aber auch die eigene Praxis zu ziehen.

 

LEMKE Harald, OGAWA Tadashi (Hg.): Essen - Wissen. Erkundungen zur Esskultur. Iudicium Verlag, München 2008.