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Welche Rolle(n) spielen Lebensmittel, Essen und Trinken in der Literatur?

Elisa ECKENSTALER.   

Man ist, was man isst und das jeden Tag. Warum also sollte das nicht auch in der Literatur so sein, genauer gesagt: im Roman?

Ja warum eigentlich nicht? Oder ist es etwa doch so?! Und was sagt das über uns aus? Und über die Romanfiguren? Obliegt der Niederschrift der Speise eine metaphorische Bedeutung? Eine kurze Abhandlung zur Gastropoetik, der Rolle des Essens und Trinkens in der Literatur.

 

«Die Gastronomie beherrscht das ganze Leben, denn die Tränen des Neugeborenen verlangen die Brust einer Amme und der Sterbende schlürft noch hoffnungsvoll den letzten Trank, den er, ach! nicht mehr verdauen soll.»

So lauten die Worte Jean Anthelme Brillat-Savarins in seinem Lehrbuch der Gastronomie und Tafelfreuden. Der französische Schriftsteller, Jurist und später auch anerkannte Gastronomiekritiker zielt damit auf die Bedeutung der Nahrungsaufnahme für das menschliche Individuum ab, die altersunabhängig omnipräsent ist. Sie begleitet ein Leben lang, wenn auch in teils sehr variabler Form. Solch ein Menschenleben umreißt beispielsweise Honoré de Balzac in seinem Roman Le Père Goriot von 1834/35, den er in seinem Hauptwerk, dem Romanzyklus La Comédie humaine, publiziert hat. Er beschreibt darin den Aufstieg und Fall der Titelfigur des Vater Goriot. Bisweilen selbst ein Genussmensch und Connaisseur, dem Exzess und der Askese gleichermaßen zugetan, beschäftigt sich der Autor in seinen Werken verstärkt mit dem Ess- und Kochverhalten seiner Zeitgenossen. Er verschafft uns in seinen Werken somit ein detailreiches Abbild der Pariser Tischsitten in den Privathaushalten und Restaurants des 19. Jahrhunderts und ist damit, neben Victor Hugo, George Sand und Eugène Sue, einer der Vorreiter der Gastropoeten. Die Leserschaft der vorherigen Generation kam während der Lektüre nicht in den gleichen Genuss wie Balzacs Publikum, dem er ausgefeilte Feinschmeckermenüfolgen, üppige Obstkörbe und andere köstliche Speisearrangements sowie prunkvolles Tafelgedeck „servierte".

Die Analyse der Gastropoetik als noch sehr junge Strömung in der Literaturwissenschaft, beschäftigt sich mit eben diesen Beschreibungen von Koch- und Speiseszenen. Durch die nähere Beschäftigung mit diesen Deskriptionen kann man, so der Ansatz, Aufschluss über den Charakter der Romanfiguren erhalten. Denn wie besagt schon das berühmte Diktum von Ludwig Feuerbach: „Der Mensch ist, was er ißt."(1) Laut Harald Lemkes Ethik des Essens wird diesem Ausspruch jedoch heutzutage kaum mehr Bedeutung beigemessen als „einer Kuriosität".(2) Doch bereits der Philosoph Jean Paul Sartre äußerte gegenüber Simone de Beauvoir, jede Nahrung sei ein Symbol. Diese gastrosophischen Ansätze fanden sich schließlich in den Romanen des Realismus und späteren Naturalismus wieder. Sie wurden als stilistische Mittel verwendet um die Figuren zu formen und ihnen einen noch greifbareren Charakter zu geben. Die Persönlichkeit spiegelt sich nun in jeder Situation, in jedem Handeln, sei es im Berufsalltag oder zu Tisch. Aus dieser gestalterischen Kraft manifestiert sich die Gastropoetik.

 

Doch was ist eigentlich Gastropoetik?

Im Lexikon findet man den Begriff bislang nicht. Er setzt sich aus dem altgriechischen Wort γαστήρ für ‚Bauch' oder ‚Magen' und dem griechischen τέχνη, was so viel wie ‚Dichtkunst' oder ‚Lehre von der Dichtkunst' bedeutet. Das Wort ‚Poetik' ist uns durch die Beschäftigung mit Literatur ausreichend bekannt. Den Wortteil ‚gastro' finden wir beispielsweise in Begriffen wie ‚Gastritis', aber auch ‚Gastronomie'. Es handelt sich also zum Einen um die Bereiche ‚Speise' und ‚speisen' sowie allem, das mit der Verarbeitung von Lebensmitteln, der Zubereitung von Speisen und den physiologischen Prozessen der Nahrungsaufnahme, bis hin zur Verdauung zu tun hat.

Die Gastropoetik ist folglich die Umsetzung dieser Phänomene und Abläufe in eine schriftsprachliche Form. Erstmals in der Epoche um Balzac und seine schriftstellerischen Zeitgenossen, wurden Speiseszenen in Romanen expliziter erwähnt, das Essverhalten der Figuren beschrieben und damit implizit bewertet. In den vorherigen Generationen wurden solche Situationen nicht beschrieben, die Romanhelden aßen nicht oder zumindest wurde es nicht besonders hervorgehoben. Das Nahrungsgeschehen wurde bis dato üblicherweise übergangen, es interessierte die Menschen schlichtweg nicht. Frankreich hatte im Bereich der Gastronomie noch nicht annähernd die gleiche Position wie heutzutage, die gesellschaftlichen und politischen Umstände taten ihr Übriges. Über Essen zu reden schickte sich nicht. Es sollte jedoch als „grundlegendes und darüber hinaus facettenreiches Phänomen des kulturellen Lebens"(3) zunehmend an Bedeutung gewinnen. In Balzacs Comédie humaine werden wir so etwa in insgesamt über 40 Restaurants entführt, die zur damaligen Zeit, des beginnenden 19. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schossen. Der Romancier gilt somit als einer der Vorreiter der Gastropoeten.

In Balzacs Werk über den Père Goriot fällt beispielsweise auf, dass die Erwähnung von Essen und Trinken nicht unbedingt übermäßig detailliert, wohl aber sehr frequent auftritt. Man könnte dies als eine Art ‚Gerüst' der Handlung betrachten, eine natürliche Taktung, so wie die Mahlzeiten seit jeher eine Grundlage des Tagesrhythmus sind. Allein, dass wir in dem Kompositum das Nomen ‚Zeit' wiederfinden, unterstreicht diesen Aspekt deutlich.

Die Essgewohnheiten der Figuren in Balzacs Werk, dienen also (unter anderem) der Strukturierung der Handlung in verschiedene Tages- bzw. Zeitabschnitte. Der Leser kann so die erzählte Zeit besser in Stunden und Tage einteilen bzw. sie gewissermaßen darin ‚umrechnen', um schließlich den Handlungsverlauf besser nachvollziehen und miterleben zu können. Die von den Romanfiguren gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten, stellen eine Art Rahmen für die Handlung dar, dienen aber im Besonderen noch einem weiteren Zwecke: dem der Kommunikation. Es fällt einem bei einer vertiefenden Lektüre förmlich ins Auge, dass die meisten Verabredungen zu kommunikativen Zwecken, mit einer Einladung zum gemeinsamen Essen einhergehen. Wichtige Dinge werden also bei Tisch geklärt, ob nun in Gesellschaft oder als tête-à-tête. Hierfür wird vorzugsweise das dîner bzw. souper, also das Abendessen genutzt. Diese Beobachtung stützte ich mit der Tatsache, dass das Essen an sich eher am Rande beschrieben wird. Es wird selten erwähnt, was zum Essen gereicht wird oder wie lange das Speisen dauert. Im Vordergrund steht der eigentliche Zweck (der Verabredung zum Essen) des Essens: das Gespräch. Dieses wird auch sehr genau, zum Teil mit direkter Rede, teilweise aber auch indirekt durch den Erzähler wiedergegeben.

Dieser Aspekt erscheint mir insofern interessant, als dass laut Benimmkodex à la Knigge, beispielsweise bei geschäftlichen Treffen, die eigentlichen Schwerpunkte des Gesprächs, also das zu Klärende, immer erst am Ende des Essens besprochen werden. Vorher gilt das Hauptaugenmerk dem Genießen der Speise und einem gewissen Grad an Smalltalk, einer eher ‚seichten' Unterhaltung, die das Essen begleiten, keinesfalls aber bestimmen sollte.

Kommen wir aber wieder zum Akt des Speisens zurück. Bereits im Gilgamesch-Epos finden wir mehr oder minder detaillierte Essensbeschreibungen, Balzac erfindet also die Gastropoetik nicht neu, er setzt sie lediglich in einen anderen, sehr sinngebenden Kontext. Zuvor noch nicht weiter angesprochen, da von den Lesern auch nicht erwünscht, gewinnen Speiseszenen zu Zeiten des Realismus und Naturalismus, immer mehr an Bedeutung für das literarische Werk.

Es scheint so offensichtlich, dass man es gar nicht ansprechen müsste: Natürlich bieten Beschreibungen von Mahlzeiten dem Autor ebenso Raum für Metaphorik, wie beispielsweise Kleidung oder andere Äußerlichkeiten von Personen, Räumen oder Naturbildern. Sie verleihen der erzählten Handlung zum einen mehr Plastik und führen dem Leser somit ein sehr detailliertes Bild vor Augen, zum anderen haben auch Speisen übertragbare Konnotationen: die Suppe und das Trockenbrot der Armen, das üppige Festbankett mit Fleisch und Obstplatten der Reichen, der Vergleich einer schönen Frau mit Früchten (appetitliche Rundungen etc.)... Will ein Schriftsteller eine Figur - nehmen wir eine weibliche Person - besonders herausstellen, so wird er ihr zum Beispiel ein ‚rotes Kleid' anziehen, das ihre Auffälligkeit hervorheben soll. Dem Leser wird ein direktes Bild im Kopf evoziert, er kann sich die Frau gut vorstellen, in ihrem auffälligen roten Kleid. Die Wahl des roten Kleides wird mit dem fiktiven Charakter verknüpft und lässt so Rückschlüsse auf beispielsweise persönliche Eigenschaften zu. Die Frau könnte so unter Umständen für arrogant, hochmütig oder auch leidenschaftlich und intrigant gehalten werden.

Angewendet auf die Beschreibungen von Gerichten und ihrer ‚Einverleibung' bedeutet das, dass zum einen die aufgetischten Speisen mit ihren hervorgerufenen Assoziationen (s. o.) das Umfeld der Figuren umreißen, zum zweiten aber auch das Essverhalten der Personen auf ihre Eigenheiten und -arten hindeuten. Wir lernen so langsame und bedächtige Esser kennen, die wir für Gourmets halten könnten; auf der anderen Seite gibt es den hastigen Verschlinger, der der Mahlzeit lediglich den Aspekt der Energiezufuhr zugesteht. Und damit steht er nicht allein: lange Zeit wurde der Nahrung keine größere Bedeutung beigemessen, es war ein notwendiges Übel, dass das Überleben sicherte. Diese Reduzierung des Essens auf die bloße Nahrungsaufnahme liegt unter anderem in unserer westlichen Kulturprägung begründet, die das Kochen verweiblicht und gewissermaßen hinter den Herd verdrängt. Harald Lemke spricht in seinen Ausführungen von einer „ Entwertung des Essens"(4), das in der patriarchalen Welt keinen Platz hat. Auch Bernhard Waldenfels sieht eine „Geringschätzung von Essen und Trinken", die aus der Gleichsetzung „mit Prozessen der Nahrungszufuhr, der Verdauung und der Ausscheidung"(5) resultiert. Und schon Ludwig Feuerbach erkannte, dass dem Menschen mit dem Magen (zwar recht biologisch/physiologisch betrachtet) ein sehr gutes Werkzeug in die Hand gegeben wird, mit dem er in der Lage ist, seine Speisen größtenteils selbst zu bestimmen und auszuwählen:

„<...> der Magen des Menschen, so verächtlich wir auf ihn herabblicken, ist kein tierisches, sondern menschliches, weil universales, nicht auf bestimmte Arten von Nahrungsmitteln eingeschränktes Wesen."(6)

Natürlich muss hier erwähnt werden, dass die Auswahl der Speisen stets auch durch äußere Faktoren wie Angebot der Rohstoffe oder finanzielle Kapazitäten des Speisenden, sowie auch innere Faktoren, zB Unverträglichkeiten oder individuelle Abneigungen, beeinflusst wird.

Die Nahrung und ihre Einverleibung haben in jedem Falle jedoch einen zentralen Stellenwert in unser aller Lebenswelt inne, denn:

„Statistisch gesehen nimmt der Mensch im Laufe seines Lebens etwa 75.000 bis 100.000 Mahlzeiten zu sich und widmet dieser Tätigkeit 13 bis 17 Jahre seiner Lebenszeit. Nicht mit einbezogen sind dabei die vielen anderen Situationen, in denen der Mensch zwar nicht isst, sich aber doch mit dem Thema der Ernährung befasst. Dazu gehören unter anderem die Beschaffung von Nahrungsmitteln, in aller Regel durch Einkaufen, das Lesen von Kochbüchern und Ernährungsratgebern, das Anschauen von Kochsendungen im Fernsehen, die Vorbereitung von festlichen Essen zu besonderen Anlässen und das Kochen und Backen selbst."(7)

So ist es ganz natürlich, dass sich auch in den Niederschriften der Roman- und auch Sachbuchautoren, Deskriptionen und Deutungen, Thesen und Theorien zu dieser Thematik finden lassen und daraus resultiert nur logisch, dass sich nun auch die Literatur- und die Kulturwissenschaften damit befassen wollen und werden.

 

Doch warum sollte sich die Wissenschaft mit der Gastronomie beschäftigen?

Seit es Menschen gibt, gibt es Essen, Nahrung und Ernährung sowie ein mehr oder minder ausgeprägtes Bewusstsein darüber, was man isst, was man essen sollte oder besser nicht. Zunächst im bloßen Überleben begründet, um beispielsweise Vergiftungen oder Verstimmungen zu vermeiden, heute mehr und mehr von ethischen Sichtweisen beeinflusst, spiegelt das Essen unsere Menschheitsgeschichte und Evolution wieder. Dem Akt des Speisens haftet immer eine, vor allem von der sozialen Komponente definierte Bedeutung an. Wie (und auch was) wir essen ist fest in unseren Kulturen festgesetzt und verankert somit stets eine gewisse Wertung und Assoziation, die wir gegenüber der Speise empfinden. Eine besonders wichtige Rolle spielen die Speiserituale, die großen Aufschluss über den Charakter des Menschen bzw. der Kulturgemeinschaft geben:

„Der Mensch is(s)t nun mal, was er is(s)t!"

 

 

Literatur

Balzac, Honoré de: Le père Goriot. Éd. mise à jour. Paris 1981

Därmann, Iris u. Lemke, Harald (Hg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld 2008

Lemke, Harald: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie. Berlin 2007

Lucas, Karin: Die Formate des Essens - Nahrungszubereitung als kultureller Akt. Das Essen der Welt in 15 Formaten. http://www.kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=30115&ausgabe=30108&zu=121&L=0 (13.10.2013)

Eckenstaler (78k)

Quellen, Anmerkungen

  1. In einer Rezension zu Jacob Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel für das Volk von 1858.  
  2. Vgl. Lemke, Ethik des Essens, 377 u. 378.  
  3. Därmann u. Lemke, Die Tischgesellschaft, 7.  
  4. Därmann u. Lemke, Die Tischgesellschaft, 222 f.  
  5. Ebd., 50.  
  6. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, §53 in: Lemke, Ethik des Essens, 381.  
  7. Vgl. Lucas, Die Formate des Essens, 1.  
Foto: Marko Greitschus  / pixelio.de