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Cuisine Alpine oder Servus Wien? Österreichische Küche zwischen Nostalgie und Regionalität

Peter PETER.   

Leseprobe aus Peter Peters „Kulturgeschichte der österreichischen Küche“ (Verlag C.H. Beck, München, 2013).

Heimat bist du großer Köche, Köchinnen

Mozartkugel und Sachertorte, Wiener Schnitzel und Wachauer Smaragdriesling, Marillenpalatschinken und Salzburger Nockerl oder einfach eine mit seidiger Extrawurst. Wenige Länder können mit einem so dezidiert kulinarischen Image punkten: „Die Wirtshäuser sind das Rückgrat der Nation", so der Beisl-Habitué Heimito von Doderer über seine österreichische Heimat.

„Woher kommen wir? Wer sind wir? Was gibt es zum Mittagessen?" bringt der Kabarettist Josef Hader „die drei essenziellen Fragen des Wieners" auf den Punkt. All die Biedermeierbackhendl, die Heurigenfilme, die Kaffeehäuser sind nicht nur epikureische Mythen, sondern Ausdruck der hedonistischen Neigungen der Hauptstadt. Die Taktung des Tages durch Mittagessen statt Fastfood ist Realität, die augenzwinkernde Interpretation des Wienerliedes, das Leben als Metapher für einen Wirtshausbesuch zu sehen, „bis mir die letzte Sperrstund schlagt", charakteristisch für das neobarocke Empfinden der Donaumetropole.

Ins Staatstragende überhöht wird diese Mentalität durch die implizite Abgrenzung zur als freudlos empfundenen preußischen Küche. Deutsche und Österreicher trennt nach einem Karl Kraus zugeschriebenen Diktum die gemeinsame Sprache - doch wenige denken dabei spontan an Landeshauptleute und Ministerpräsidenten, an juridische und juristische Fakultäten, an Kassa statt Kasse. Es sind kulinarische Termini wie Karfiol versus Blumenkohl, Schlagobers versus Schlagsahne oder Gespritzter versus Schorle, an denen im Alltag die sprachliche Distanz zum kleindeutschen Brudervolk täglich erneuert wird und sich Österreich seiner kulinarischen, ja implizit kulturellen Suprematie vergewissert.

 

„Peymann: Dann essen wir mal Tafelspitz...
(Zur Kellnerin) Mal Rindssuppe mit Leberknödel
Dann Tafelspitz mit Semmelkren
Und dann noch ne Mehlspeise
Nehm wa doch Millirahmstrudel mit Tunke
Steckt sich die Serviette in den Kragen
Tolle Stadt Bernhard
Tolles Land Bernhard
Österreich ist schon 'n Hammer"

Thomas Bernhard, Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen.

 

„Wien ist nicht mehr die Hauptstadt eines großen Reiches, aber seine Kochkunst regiert dort weiter, wo seine politische Diplomatie gescheitert ist." Auratisch erklärt wird die österreichische Küche zum Vermächtnis der Habsburgermonarchie, des k. u. k. Imperiums: „Jedes der Kronländer lieferte einen Beitrag aus einer Spezialitätenküche ... Aus Böhmen kamen die sättigenden Mehlspeisen, aus Ungarn die Geflügel- und Paprikagerichte und die unvergleichlichen Strudel, und aus den Balkanländern lernten wir scharf gewürzte Lammgerichte und am Spieß Gebratenes, honigsüße Desserts und schwere Weine schätzen. Die dalmatinischen, istrischen und triestiner Küstengebiete lieferten schmackhafte Meeresprodukte, und die Kornkammern und Gemüseländer von Galizien bis Siebenbürgen versorgten das Land mit ihren Erzeugnissen", verklärte Franz Zodl, langjähriger Präsident des Verbands der Köche Österreichs, die Fusionsküche von einst. Der tröstliche kakanische Topos half enorm, den schwierigen Transfer vom Habsburger Großreich in die kleine Alpenrepublik abzufedern - und sorgt heute für klingende touristische Münze.

Einher geht damit bodenständig-eleganter Wertkonservativismus am Kochtopf und im Service. Nicht töricht jeder Mode hinterher zu rennen, sondern am Bewährten festzuhalten und es durch Zutaten zu verbessern, ist eine der großen Stärken der „antikreativen" österreichischen Küche - manches, was heute als spezifisch gilt, wie Beuschel, Kalbskopf oder heiße Würstel, gab es früher europaweit.

Das ist auch ein Reflex der bäuerlichen Grundstruktur des Landes (das weniger als halb so dicht besiedelt ist wie Deutschland). Eine geerdete Nation, die sich lebensmittelmäßig nicht so leicht etwas vormachen lässt und die das Recht auf anständiges Essen nicht nur auf die Eliten beschränkt: „Für die Österreicher ist das Lebensmittel auch Lebenszweck" (Karl Kraus).

Der élan culinaire der Bundesländer, die Produktqualität von burgenländischen Weidegänsen bis zum Kärntner Alpensaibling, von Marillen bis zu Montafoner Sura Kees macht die bis vor kurzem wienhörige Gasthausküche tatsächlich zur österreichischen, ersetzt Nostalgie durch präzise Produktrecherche. Unterstützt durch Gastromarketing, haben sich eigenständige Genussregionen wie das Waldviertel mit seinen Erdäpfelknödeln und böhmischen Bieren oder die steirischen Weinstraßen mit ihren Buschenschanken etabliert, knüpfen Landesmetropolen wie Graz, Linz oder Innsbruck wieder an ihre Kochbuchtraditionen an. Die Gebirgsareale haben durch Wandertourismus und Skistationen eine gewaltige Aufwertung erfahren, sodass chefs zwischen St. Anton und Schladming, Kitzbühel und Kleinkirchheim reflektieren, wie eine moderne cuisine alpine, die mehr als Speckknödel und Tiroler Gröstl zu bieten hat, aussehen könnte. Grammeln vom Mangalitza-Wollschwein, Grubenkraut und pannonische Paradeiser sind die neuen Delikatessen des Landes, das auf provokative Fragen wie „Gibt es überhaupt eine österreichische Küche" frische regionale, ja radikale Antworten findet.

Eine Fülle an angeregten Gesprächen, Publikationen und Ausstellungen zeigt: Die Alpenrepublik pflegt einen Grad von gastronomischem Bewusstsein und Reflektionsniveau, wie man ihn sonst eher bei romanischen Völkern bewundert. Auch wenn der begeisterte Brief einer italienischen Austauschstudentin, die Salzburger seien so kunstsinnig, dass sie sich sogar beim Essen Mozart zuriefen, auf einer phonetischen Fehlinterpretation des dialektal eingefärbten Glückwunschs Mahlzeit beruht, bleibt Österreich eine Großmacht kulinarischer Kultur.

Das AEIOU der Küche: Kulinaristik ist hierzulande kein Orchideenfach, sondern Alltagsthema. Logische Weiterentwicklung: Die Gründung des Zentrums für Gastrosophie (www.gastrosophie.at) an der Salzburger Paris-Lodron-Universität bündelt durch wissenschaftliche Fokussierung diese breitgefächerte kulinarische Kompetenz und verbindet seit 2008 akademische Recherche mit dem Praxiswissen der Produzenten, Gastronomen und Konsumenten. Ich möchte an dieser Stelle meinen Studenten, Kollegen und insbesondere Lothar Kolmer, dem Inspirator und Leiter des Zentrums, für eine Fülle humorgewürzter Anregungen danken.

Meine Gedanken gelten allen, die mich auf dieser Recherche begleitet haben. Ingrid Haslinger ließ mich großzügigst an ihrem profunden Wissen teilhaben und bewahrte mich vor mancher Leichtgläubigkeit gegenüber habsburgischen Mythen. Klaus Dürrschmid, der dankenswerterweise eine Geschichte des Kochbuchs ins Netz gestellt hat (www.boku.ac.at/duerr), traf sich mit mir zum fachsimpelnden Mittagstisch.

Hans Feyertag überreichte mir seine hilfreichen Monographien zu Kochbüchern der Monarchie. Richard Zahnhausen nahm sich Zeit, im Kaffeehaus seine Thesen zu Tafelspitz und Wiener Schnitzel als republikanische Nostalgie-Gerichte zu erläutern. Wertvolle Hinweise zur Genesis des Wiener Schnitzels verdanke ich Dr. Walter Riedl und Gattin, die mir bei einer liebenswürdigen Smaragdweinprobe Einsicht in ihre Kochbuchsammlung gewährten. Werner Matt erzählte mir von den Pioniertagen der Neuen Österreichischen Küche, Eckart Witzigmann sparte nicht mit Aufmunterungen, Kommerzialrat Frank Bläuel vom Tulbingerkogel erklärte sein Konzept des diner historique. Wolfgang Schäffner, Convivienleiter des Pinzgaus, weihte mich in die Ziele von Slow Food Österreich ein. Zielführende Arbeiten zum Phänomen der böhmischen Köchin verrieten Elisabeth Fendl in Freiburg und Ulrike Zischka in München. Hans Ottomeyer in Berlin vermittelte Einsichten in Tafelzeremoniell, böhmische Hofküche und kaiserliche Oglio-Suppe, Gregor Eichinger in das Potential aktueller Kaffeehausarchitektur. Dr.  Eberhard Haas aus Bremen teilte mir eine Trouvaille wie die barocke Gastmahlsrechnung auf S.51 mit.

Mein genereller Dank gilt den österreichischen Landes- und Universitätsbibliotheken, insbesondere der Nationalbibliothek und der Wienbibliothek sowie Herbert Hummer und Eveline Artner vom Volkskundemuseum, die meine ersten Recherchen mit sachdienlicher Literatur ermunterten. Ein herzliches Kompliment auch all den Köchen und Köchinnen, die die Recherche so angenehm gestalteten und den Abdruck ihrer Rezepte gestatteten, insbesondere an Emanuel Stadler für sein Privatissimum zur Kärntner Küche. Es erfüllt mich mit Stolz, dass mir Margarethe Linhuber das handschriftliche Kochbuch ihrer Ururgroßmutter Elise Ferstl (S. 142-143) zum Studium anvertraute und der Salzburger Künstler Gerhard Trieb seine Zuckmayer-Installation zur Verfügung stellte (S. 171).

Einen wahren Freundesdienst erwies mir Johannes Frimmel, der mich für meine Recherchen immer wieder in seiner Wohnung in der Josefstadt unterschlüpfen ließ und Literaturtipps aus dem Ärmel schüttelte. Manuela Wolf begleitete mich und verbesserte meine Texte mit Esprit, als ob es ihr eigenes Buch wäre. Karin Kekulé zeigte mir, wie betörend Wien sein kann, wenn man sich auf seine Magie einläßt. Andrea Lorentzen verdanke ich tiefe Einblicke in das Spektrum des österreichischen Weins. Schön, wenn man einen sprachmächtigen Beisl-Guru wie Christian Schreibmüller zum Freund hat. Daniel Beyer überreichte mir seine con brio getaktete Liste Wiener Etablissements. Flottenspezialist Olaf Rader briet mir in Berlin Tegetthoff-Rostbraten. Dirk Heißerer öffnete sein germanistisches Austriaca-Schatzkästlein. Annette Rudolf und Lukas Mayrhofer lasen meine Texte aus bayerischer und oberösterreichischer Gourmet- und Patissier-Perspektive. Die Gastrosophinnen Lisa Freidl und Johanna Zugmann nahmen mich unter ihre charmanten Fittiche. Mit Ronald Bolt verbindet mich nicht nur die Erinnerung an gemeinsame Heurigenbesuche.

Rühmen möchte ich Engagement und Geduld meines Lektorats: Raimund Bezold, Rosemarie Mayr und Konstanze Berner (Layout) gilt mein Dank für die sorgfältige Betreuung dieser Monographie, die nicht als Heimatbuch konzipiert ist, sondern darüber spricht, was die Welt kulinarisch an Österreich fasziniert.

 

Kelten-Ritschert und Carnuntum-Reben

Bei der Jause von hinten mit einem Pfeilschuss ermordet! Doch was aß Ötzi in seinen letzten Stunden? Die Archäomediziner konnten durch Magenanalysen der Mumie Beeren und Getreidekörner, Apfelreste und nicht mehr frisches, von einer Fliegenlarve befallenes Rotwild nachweisen. Seine Henkersmahlzeit dürfte Steinbockfleisch gewesen sein, an der Fellkleidung fanden sich Tierblutspuren. Unabhängig von der Extremsituation und davon, dass der „Eismann" auf italienischem Staatsgebiet der autonomen Provinz Bozen im Passbereich zwischen Schnals- und Ötztal gefunden wurde, geben die Befunde Hinweise auf jungsteinzeitliche alpine Jäger- und Sammler-Kost vor über 5000 Jahren und lassen sich mit organischen Speiseresten der etwa gleichzeitigen Mondseekultur vergleichen. Die im Salzkammergut siedelnden Pfahlbauern betrieben bereits rudimentäre Landwirtschaft und pressten Getreidebreireste zu Urknödeln.

Weit früher, um 25.000  v. Chr., wird die pummelige Kalksteinstatuette der Venus von Willendorf in der Wachau datiert, die im Naturhistorischen Museum in Wien in einer Hochsicherheitskammer verwahrt wird. Schmalspurvergleiche mit Adipositas-gesegneten Deix-Karikaturen verbieten sich schon aufgrund der

Zeitendistanz. Vielmehr handelt es sich um ein eurasisch-mediterranes Idol. Solche matronenhaften Muttergottheiten sollten wohl das Mysterium des Gebärens und der Fruchtbarkeit symbolisieren und finden sich im Jungpaläolithikum von der Ukraine bis Griechenland und Frankreich. Schautafeln am Venusium in Willendorf mutmaßen Mammut, Wollnashorn, Wildpferd, Rentier, Riesenhirsch, Wisent, Eisfuchs und Schneehase als wichtigste Beutetiere der Gravettien-Epoche. „Neben der Jagd war auch das Sammeln von Beeren und Wurzeln für eine ausgeglichene Ernährung wichtig. Im Frühsommer trug das Sammeln von Vogeleiern zur Deckung des Eiweißbedarfs bei."

 

Wir sind eine zum Mittelmeer gewendete,
ursprünglich römische Stadt."

Heimito von Doderer über Wien.

 

Auf etwas gesicherterem Boden sind wir bei der weitgehend keltischen Frühbevölkerung. Indogermanische Proto-Kelten siedeln (ab dem 8.Jahrhundert v. Chr.) nicht nur in Hallstatt und Hallein (und hinterließen das Wort hal = Salz, wie noch heute im Walisischen), sondern auch in Gallien und der Poebene, auf den britischen Inseln und später in Anatolien. So sind die knappen, fabelhaft vagen Notizen antiker Schriftsteller über Keltenkost nur behutsamst auf das österreichische Staatsgebiet anzuwenden. Erkenntnisfördernder als die Notiz, dass sie Fleisch in Ledersäcken zu Tatar schlugen, sind Gänge durch keltische Sammlungen und Museumsdörfer der Alpenrepublik. So dokumentiert das Museum Hallstatt mit Hilfe eines Videos, wie unterirdische Salzstöcke genutzt wurden, um Schweinehälften einzusuren und in Stollen reifen zu lassen - die Vorliebe Österreichs für Teilsames und Beinschinken kann also auf eine über 2500-jährige Tradition zurückschauen! Durch Salzlake zufällig konservierte Spanschachteln bargen wohl einen Topfen-Imbiss für Bergleute. Analysen organischer Abfälle ergeben, dass Breie aus aufgequollenen Gerstenkörnern, Hirse und Saubohnen zur Alltagsnahrung zählten, vermutlich aus Holzschüsseln geschlürft oder mit Fingern zum Mund geführt. Genau dieses Getreide bildet bis heute das Rückgrat alpiner Kost, von Bündner Gerstensuppe bis zum Trentiner risotto d'orzo oder Ritschert, dem Vorzeigegericht Kärntner Hausmannskost.

Prunkstücke keltischer Sammlungen sind toreutische Bronzegefäße - der prähistorische Salzexport, der sich bis in die Sahara verzweigte, brachte den „Salzfürsten" beträchtlichen Wohlstand. So kannten Eliten italische Produkte wie Wein und zelebrierten den Genuss in prächtigen Schnabelkannen und Trinkeimern (situlae), die etruskische Motive nachahmten. Die berühmte situla aus Kuffern im Naturhistorischen Museum zeigt einen Würdenträger mit breitkrempigem Trachtenhut, der sich auf bequemem Sessel vermutlich Würzwein kredenzen lässt. Der lateinische Name dieser Trinkgefäße lebt bis heute im Seitel (Seidel/Seidl), dem kleinen Bier, fort.

15 v. Chr. besiegen Drusus und Tiberius die Raeter und keltischen Vindeliker, 6 n. Chr. ließ Tiberius bei Carnuntum ein Winterlager zimmern. In den Folgejahren geraten weite Teile des heutigen Österreichs vom Bodensee bis zur Donau unter römischen Einfluss. Lediglich in nördlich der Donau gelegenen Gebieten halten sich freie Germanenstämme wie die Markomannen.

Die Provinzen Raetia, Noricum und Illyricum, bald Pannonia superior genannt, entstehen. Augusta Vindelicorum, das heutige Augsburg, war die Hauptstadt des alpinen Raetiens, das Vorarlberg und Tirol (westlich des Ziller- und Inntals) ebenso umfasste wie Schwaben, den Schweizer Gotthard und das Veltlin. Noricum, das im Westen von Etsch und Inn, im Norden von der Donau, im Osten von Pannonia und im Süden direkt von der Provinz Italia begrenzt wurde, lag zum allergrößten Teil auf dem Gebiet des heutigen Österreich. Norisch waren Städte wie Iuvavum (Salzburg), Lentia (Linz), der Wienerwald, Kärnten und die Steiermark. Vindobona (Wien) gehörte ebenso wie das östliche Niederösterreich und das Burgenland zur weit nach Ungarn und in den Balkan ausgreifenden Provinz Pannonia superior, die von Carnuntum aus regiert wurde.

Den hier stationierten Legionären und Colonen wurde ein mediterran geprägtes Ernährungsregime garantiert. Der provinzialrömische Archäologe Günther Thüry spricht von „kulinarischer Romanisierung", begünstigt dadurch, dass die Neuankömmlinge die einheimische Kost als kläglich empfanden. So äußert sich der Historiker Cassius Dio, Gouverneur von Pannonia superior, teils abschätzig, teils bewundernd: „Die Pannonier wohnen... am Ufer der Donau... und leben von allen Menschen am erbärmlichsten. Sowohl ihr Klima als auch ihr Boden sind arm. Sie pflanzen keine Oliven an und produzieren keinen Wein bis auf sehr kleine Mengen von sehr schlechter Qualität... Sie essen nicht nur Gerste und Hirse, sondern trinken auch Getränke, die daraus gemacht sind. Nichtsdestotrotz gelten sie als die tapfersten unter allen Männern. Denn da sie nichts haben, was eines zivilisierten Lebens wert ist, sind sie äußerst wild und blutrünstig..."

Archäologen haben eine Fülle von Belegen für diese teilweise luxuriösen mediterranen Importe gesammelt. So wurden bei ca. einhundert Grabungen im Alpenraum Austernschalen gefunden, z.B. an der Markthalle des macellum im kärntnerischen Aguntum. Auf dem Waagplatz in Salzburg freigelegte Mosaike zeigen Mittelmeerfische und Zitronatzitronen. Am Kärntner Magdalensberg, der „ersten Hauptstadt Österreichs", wo dreizehn keltische Stämme um 200 v. Chr. ein gemeinsames Königreich Noricum errichteten, erzählt eine Ausstellung am Händlerforum von römischen Essgewohnheiten, von puls-Brei aus Saubohnen und Getreidekörnern und von Schweinshaxen, die mit Bohnenkraut, Thymian und Bärlauch abgeschmeckt wurden. Wichtig war schon früh der Handel mit der friaulischen Metropole Aquileja, die am südlichen Ende der Bernsteinstraße lag. Seit 170  v. Chr. war sie durch vertragliche Gastfreundschaft (hospitium publicum) verbunden und lieferte Wein, istrisches Olivenöl oder spanische Garum-Fischsauce in den Norden. Der Nachbau eines antiken Holzfasses erinnert daran, dass es die Bier trinkenden Kelten und Räter waren, die die mediterrane Weinkultur der Tonamphoren durch transportablere Gebinde verblüfften.

Archäobotanische Analysen ergeben, dass die Römer Marillen, Kirschen, Honigmelonen, Mandeln, Maulbeeren und Walnüsse nach Österreich brachten, außerdem Kultursorten von Äpfeln, Birnen und Pfirsichen züchteten und Weinbau förderten. Der rekonstruierte Kräutergarten in Carnuntum belegt, dass Basilikum, Bohnenkraut, Dill, Fenchel, Thymian, Knoblauch, Koriander, Melisse, Petersilie, Raute und Gemüse wie Sellerie und porrum (Lauch) den Geschmack der Speisen verfeinerten. Mörserfunde und Reibschüsseln deuten darauf hin, dass Kräuter wie in Italien mit Nüssen und Käse zu pesto gestampft wurden. Gezielt wurden größere Haustierrassen eingeführt. Plinius rühmt in seiner Naturalis historia die zähen und milchfrohen Alpenrinder, die gern als Vorfahren des Tiroler Grauviehs gedeutet werden. Römerzeitliche Kuhglocken im Museum von Hallein künden von antiker Almwirtschaft.

Schon in der Antike von österreichischer Küche zu sprechen ist sicherlich übertrieben. Punktuell liefert vor allem die alpine Ernährung mit Grundproduktkontinuität von Salzfleisch, Wild, Fischen oder Gerstensuppen anthropologische Konstanten und Anknüpfungspunkte zur Gegenwart. Die Römer haben mit ihrer landwirtschaftlichen Begabung einen Grundstein für die bäuerliche Obst- und Gemüsevielfalt des Landes gelegt, und Heurigenlieder verkünden zu Recht, dass der Weinbau ihr Erbe ist. Der illyrische Soldatenkaiser Probus wird in Heiligenstadt in Wien als heidnischer Rebenpatron und Weinmärtyrer verehrt, weil er einst seinen Legionären in Pannonien das Anlegen von Weinrieden befahl - und heimtückischerweise im Jahr  282 von Meuterern in einem Weinberg erschlagen wurde. Smaragdweine reifen im Nikolaihof in Mautern bei Krems oder im barocken Wiener Feinkostgeschäft Zum Schwarzen Kameel unter römischen Ziegelgewölben.

Wie stark die romanisierte Bevölkerung an ihren Ernährungsgewohnheiten hing, belegt eine Episode aus der Vita des hl. Severin, der eine Zelle ad vineas (bei den Weinbergen) bewohnte und 482 in Favianis (Mautern an der Donau) starb. Der Bischof versuchte in Zeiten zusammenbrechender staatlicher Autoritäten, das Gemeinwesen und die Lebensmittelversorgung zu organisieren, und beeindruckte seine Schäflein durch ein Olivenölwunder  - und eben keine überirdische Schmalz- oder Gänsefettvermehrung. Importe aus Italien waren zur begehrten Mangelware geworden.

488 ordnet König Odoaker den Abzug der bedrängten Romanen aus dem Alpenraum an. Nachrückende Stämme wie die slawischen Awaren, die im 6. Jahrhundert die Wachau besetzten, oder die Bajuwaren leiten eine Epoche lokaler Subsistenznahrung bzw. der Nutzung alpiner Ressourcen durch verstärkte Rodung ein. Ein Vorbild der neuen gastronomischen Anspruchslosigkeit könnte der über Pannonien herrschende Hunnenkönig Attila gewesen sein, dem sein Chronist Priskos nachsagt, er habe 449 in elitärer Nomaden-Bescheidenheit aus seinem Holznapf gelöffelt, während er den anwesenden Gesandten goldene Schalen vorsetzen ließ. Der Agilolfinger Bajuwarenherzog Tassilo ließ sich hingegen 768 einen ziselierten drei halbe Liter fassenden Hochzeitskelch für die Heirat mit der Langobarden-Prinzessin Luitpirc in einer iroschottisch beeinflussten Werkstatt bei Monza schmieden. Bis heute wird er jedes Jahr in der Abtei Kremsmünster am 11. Dezember bei der Stiftermesse zu Ehren Tassilos mit anschließendem Wildschweinessen verwendet.

 

Althallstätter Ritschert (Museum Hallstatt, ca.500 v. Chr.)

100  g Saubohnen über Nacht einweichen. 50  g Schälgerste und eine kleine Schweinsstelze mit Thymian und Bohnenkraut halbweich kochen. 200  g Hirse hinzufügen und fertig kochen. Erst am Schluss reichlich salzen und mit Schnittlauch, Bärlauch oder gehackten Zwiebeln bestreut servieren.

Natürlich ist das „Originalrezept" der „prähistorischen Bergleute" nicht schriftlich überliefert, sondern wurde von Archäologen und Fachleuten des Museums Hallstatt „nach langwierigen Experimenten wiederentdeckt". Anhand von ausgespuckten Knochenfunden ließ sich auch rekonstruieren, dass hauptsächlich „Sauhaxerln und Sauschwafferln", aber auch Ziegenrippen mitgekocht wurden.

 

 

Ende der Leseprobe aus Peter Peters „Kulturgeschichte der österreichischen Küche" (Verlag C.H. Beck, München, 2013). Weitere Informationen zum Buch finden Sie hier.

OesterreichischeKueche (72k)

Neue Altösterreichische Küche. Foto: Peter Peter   Kaiserschmarren mit Preiselbeermarmelade   Peter, Peter: Kulturgeschichte der österreichischen Küche. C.H. Beck, München 2013