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Bauch oder Gaumen? Epikureische Lust zwischen Verdauung und Geschmack

DENKER Christian W..   

Die Verdauung schafft Verbindung zwischen uns und der Welt. Alle Aktivitäten zwischen Einverleibung und Ausscheidung können lustvoll sein. Oftmals wird uns das aber erst dann bewusst, wenn bei Krankheit die Lust in Unlust umschlägt.

Mein Argument für integrative Gastrosophie und gegen partikularistische Feinschmeckerei gründet sich auf Epikurs Lob der Freude am gefüllten Bauch und sein Plädoyer für einfache Speise.


Was zählt bei der Wahl von Speise, die Verdauung oder der Geschmack? Mein Artikel behandelt diese Frage in drei Abschnitten unter Rückgriff auf die Philosophie Epikurs. Vielen Lesern dürften die grundlegenden Züge seiner Philosophie hinlänglich bekannt sein. Ich zitiere dennoch recht ausführlich, um einprägsame Anhaltspunkte für meine Argumentation zu gewinnen. Im ersten Abschnitt gebe ich einige einführende Erklärungen zu Epikurs philosophischer Grundhaltung. Im zweiten Abschnitt plädiere ich für eine integrative Gastrosophie und gegen partikularistische Feinschmeckerei. Im dritten Abschnitt frage ich nach der Bedeutung des guten Geschmacks in Epikurs Philosophie der Verdauung.

I. Epikurs kulinarische Genügsamkeit
Epikur versteht Lust als Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens (Men., 128). Sexuelle Lust spielt bei ihm eine untergeordnete Rolle (Baudy, S. 29), wogegen Überlegungen zu Essen und Trinken in zahlreichen Variationen erscheinen. Besonders erhellend ist die Erklärung von Athenaios, mit Epikur sei die Freude des Magens als Ursprung und Wurzel des Guten anzusehen. Alle Weisheit müsse auf den Magen bezogen werden (Deip., III, XII, S. 875). Diese Erklärung entspricht einer Besonderheit der epikureischen Philosophie: der Wertschätzung instinktiver und natürlicher Sensibilität (Lalande, S. 82). Jede Lust gilt als wirklich und gut (Men. 129). Das ist ein wichtiger Unterschied zu den Lehren Platons, in denen Schmerz als Gut erscheint, wenn er vor schlimmeren Schmerzen schützt, Lust dagegen als Übel, wenn sie bei der Erlangung größerer Lüste hinderlich ist (Protagoras, 355c-357b).

Mit Schmerz, Sühne und Demütigung verbundene Askese (Lalande, S. 82) ist Epikur fremd. Die Sprengkraft seines „theoretischen Dynamits" (Kenney, S. 40) wurde durch polemische und bösartige Auslegungen noch erhöht. Bekanntlich nennt schon Epikurs philosophischer Biograph, Diogenes Laertius, verschiedene Fälle der Rufschädigung. Verwechslungen zwischen der Position Epikurs und seiner Reputation als hemmungsloser Lüstling sind häufig und oftmals beabsichtigt (Sandnes, S. 64ff). Epikur bemüht sich nachdrücklich um Entschärfung seines philosophischen Sprengsatzes, etwa wenn er erklärt, dass weder die Lüste der Hemmungslosen noch Trinkgelage, Umzüge, das Genießen von Knaben und Frauen, von Fischen und von allem Übrigen, was eine aufwendige Tafel biete, zum lustvollen Leben in seinem Sinne beitrage. Erfordert sei vielmehr ein nüchterner Verstand, der die Gründe für jedes Wählen und Meiden aufspüre (Men, 131-132).

Nicht alle Philosophen überzeugen solche Erklärungen von der Harmlosigkeit epikureischer Lehren. Zwar dürfen wir bezweifeln, dass „wahrer" Epikureismus eine Ethik des kulinarischen Wohllebens als eines „Guten an sich" darstellt (vgl. Lemke, S. 344), denn Epikur hält Lust und Speise für voneinander trennbar, Lust und Tugend dagegen nicht (Diog. Laert., X.138). Aber sein Lob der Lust gilt manchen schon deshalb als brenzlig, weil es der Vermeidung von Hunger eine philosophische Bedeutung beilegt und die Stimme des Fleisches zu Wort bringt: „(...) nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren" (Weisungen, 33). Müssen Menschen, die dieser Stimme folgen, sich nicht zwangsläufig wie Schweine benehmen und wahllos in sich hineinstopfen, was ihnen irgendwie verdaulich erscheint?

Wir können anführen, dass Epikur die Lust an Speise nicht auf das Abfüllen des Magens reduziert. Im Gegenteil: bei der Wahl der Speise sollen wir uns nicht an der Menge, sondern an der Lust orientieren, die sie uns spendet (Men. 126). Für die philosophische Unterscheidung zwischen Menschen und Schweinen ist dieses Argument allerdings wenig überzeugend, insofern Schweine, mit ca. 10.000 Geschmacksknospen, über einen deutlich besser ausgerüsteten Geschmacksapparat verfügen als Menschen, mit ca. 6.000 Knospen (Vgl. Hellekant, Danilova). Da bei Menschen ein Zusammenhang zwischen der Anzahl der Geschmacksknospen und der Qualität des Geschmackserlebens nachweisbar ist, liegt die Annahme nahe, dass ein durchschnittliches Hausschwein qualitativ feinere Geschmackslust empfindet als wir selbst (ebd.). Allerdings hinkt der Vergleich zwischen Mensch und Schwein, da wir - mit Wittgenstein gesprochen - die Lüste anderer Lebensformen nicht verstehen (Vgl. PU, S. 568). Auch die biomedizinische Forschung erachtet Vergleiche der Geschmacksempfindungen verschiedener Arten für problematisch (Vgl. Hellekant, Danilova). Sicher ist allerdings, dass viele Tiere zur Unterscheidung feiner Geschmacksnuancen fähig sind. Ob wir nun einen schlechteren Geschmack haben als Hausschweine oder nicht: Epikurs Philosophie richtet sich an Personen, nicht an Tiere. Seine Aufforderung zur klugen Wahl der Speise stellt er in unmittelbaren Bezug zur menschlichen Lebensführung.

Zur Entfachung kulinarischer Lust braucht es laut Epikur keine lukullisch bestückte Tafel: „Bescheidene Suppen verschaffen ebenso starke Lust wie ein aufwendiges Mahl." (Men., 130) Wobei es auch ohne die Suppe geht: „Brot und Wasser spenden höchste Lust, wenn einer sie aus Mangel zu sich nimmt." (Men., 131) Mit spärlicher Speisung verbindet Epikur überquellende Lust für sein „Körperchen" (Anax., 1.3.2.). Dessen ungeachtet erklärt er karge Mahlzeiten nicht zum einzigen Schlüssel der Glückseligkeit. Einschränkungen sind bei ihm kein Selbstzweck, sondern dienen der Vorbereitung auf Zeiten, in denen aufwendige Speisen nicht verfügbar sind (Men., 131). Diese Haltung erläutert er damit, dass das Naturgemäße leicht zu beschaffen sei, das Ziellose dagegen nicht. Selbstgenügsamkeit erleichtere die Anforderungen des Lebens, stärke uns für aufwendigere Mahlzeiten und entlasse uns angstfrei gegenüber dem Zufall.

Erhebt Epikur dabei seine eigene Not zur allgemeinen Tugend? Die Einsicht, dass Armut großem Reichtum gleiche, wenn sie dem Ziel unserer Veranlagung entspreche, unbegrenzter Reichtum dagegen großer Armut (Weisungen, 27), könnte dem Lebensgefühl eines „armen Schluckers" entspringen. Vielleicht waren die Ernteerfolge in Epikurs Garten nicht immer üppig? Die berühmte Bitte an Menoikeus: „Schicke mir ein Töpfchen mit Käse, damit ich, wenn ich Lust habe, prächtig speisen kann" (Diog. Laert., X, 11.), könnte doppelt motiviert sein: durch Armut auf der einen Seite und durch kulinarische Weisheit auf der anderen. Knappe Lebensmittelversorgung und Lust an Speise schließen sich nicht aus, im Gegenteil!

II. Gourmandismus versus Gourmetentum
Kulinarische Weisheit kennt verschiedene Attitüden. Wo ein derber Gourmand sein kulinarisches Interesse auf den Sättigungswert deftiger Hausmannskost richtet, beschäftigt sich ein elitärer Gourmet eher mit feiner Nouvelle cuisine. Ich möchte die Unterscheidung zwischen Gourmandismus und Gourmetentum nun mit der Unterscheidung zwischen Bauch und Gaumen in Bezug setzen. Dabei vertrete ich die Auffassung, dass Epikur seine Lust weniger in Hinblick auf eine Ess- als auf eine Verdauungspraxis ausrichtet. Der zentrale Bezugspunkt für die Lust an Speise ist nicht unbedingt ihr guter Geschmack.

Epikur gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass er der Lust an feinschmeckerischen Gaumenfreuden wenig abgewinnen kann. Wie eingangs erwähnt, verwurzelt er das Gute nicht im Mund, sondern im Magen. Kulinarisches Wohlleben im Sinne Epikurs ist nicht auf einen Kult des Wohlgeschmacks beschränkt. Epikur tut das Verlangen nach Speisefinessen nicht als unbedeutenden Nebenaspekt der Lust an Speise ab, sondern verbindet es mit seelischer Undankbarkeit, die Lebewesen grenzenlos lüstern mache (Weisungen 69). Bei der Vermeidung aufwendiger Mahlzeiten dürfte er - Not hin, Armut her - recht konsequent gewesen sein (Vgl. Weisungen, 36). Jedenfalls versichern verschiedene Gewährsmänner, zum Beispiel St. Jerome, dass Epikur sich billiger Speisen bediente, um Hunger und Durst zu stillen, ohne ein Verlangen nach Luxus anzufachen (Against Jov., II.11). Zwar werden Epikurs Intentionen in stoisch oder christlich inspirierten Überlieferungen oft verzerrt wiedergegeben, aber Widersprüche im Zusammenhang seiner kulinarischen Bescheidenheit sind nicht leicht auszumachen.

Gegen Epikurs Sympathie für Feinschmeckerei spricht auch, dass er verschiedene Speisen in einen einzigen Topf wirft. Von Geschmack ist dabei nicht die Rede, sondern von Mangel: „Einfache Suppen bereiten den gleichen Genuss wie ein üppiges Essen, wenn nur der Schmerz des Mangels behoben wird; auch Brot und Wasser spenden höchste Lust, wenn einer sie aus Mangel zu sich nimmt" (Men. 130-131). Bei Mangel lässt die Lust des Bauches wenig Freiraum für oralfetischistische Feinsinnigkeiten. Wie Aristoteles versteht Epikur die Freuden des Magens als wesentlichen Aspekt der Lust an Speise: „Der mit Nahrung gefüllte bzw. sich füllende Magen - die wohl alltäglichste Art Lust zu gewinnen - erscheint als Urbild der Lust überhaupt, ja eines im Sinne der Erfüllung sich vollendenden Lebens." (Baudy, S. 8)

Epikurs philosophische Wertschätzung der Speise - und die anhaltenden Proteststürme gegen seine Lehren - erklären sich aus der Sorge um die Vermeidung von Hunger und der damit einhergehenden Leiden. Wird das Verlangen nach Speise überwältigend, geraten Geschmackserlebnisse zur Nebensache. Mangel lässt uns kulinarischen Ekel unterdrücken und gustatorische Tabus vergessen. Er kann unsere Erkenntnisse, Handlungen und Empfindungen allesamt zugrunde richten. Die physische und psychische Gewalt, mit der ein leerer Magen unsere Taten und Gedanken beeinflusst, spottet jeder Philosophie. Böser Hunger bringt unsere Lust an Gesundheit und Geschmack zum Verblassen. Wer dauerhaft hungert, riskiert sein Leben.

Anders verhält es sich bei Fülle. Wer satt ist, kann sich überlegen, welche Genüsse er seinem vollen Bauch noch zumuten möchte, eine Petite Pâtisserie, ein Plateau de Fromages oder einen Cognac zur guten Verdauung? Fülle verleiht dem Feingeschmack Flügel. Kritisch bemerkt Epikur: „Wenn ich nun erkläre, dass die Hedone das Ziel des Lebens ist, dann meine ich damit nicht die Lüste der Schlemmer noch die Lüste, die im Genießen selbst liegen." (Men., 58) Seine Ablehnung schlemmerischer Freuden erläutert er unter Hinweis auf ihre Konsequenzen: „Ich pfeife auf die Freuden eines üppigen Mahles nicht dieser Freuden wegen, sondern wegen der Unannehmlichkeiten, die ihnen auf dem Fuße folgen" (Fragm. 10).

Unter dem Eindruck der Widerstände gegen die Lehren Epikurs können wir die Philosophiegeschichte als eine Serie von Vorkehrungen gegen die Herrschaft des Bauches über das Dasein interpretieren. Unsere Bäuche sind zwar mächtig, aber auch gutmütig. Sie lassen sich vielfach recht billig abspeisen. So kann sich die Philosophie des Geistes in unerschütterlicher Selbstgewissheit sonnen, solange die Bäuche nicht revoltieren. Ausreichende Nahrungsversorgung sorgt für gastrosophische Ruhe. Speisend, verdauend und fäkalisierend halten wir unseren Bauch in einem mehr oder weniger stabilen Zustand zwischen Leere und Fülle. Gewöhnlich füttern wir unseren Magen nicht bis an die Grenze seines Fassungsvermögens und wenn wir uns ans Essen machen, dann ist unser Darm häufig noch gut beschäftigt.

Laut Epikur betreffen unsere notwendigen Bedürfnisse Glück, Körper oder Leben (Men., 127). Bei Entscheidungen für oder gegen die eine oder andere Lust sollen wir der Gesundheit des Körpers und der Unerschütterlichkeit der Seele Beachtung schenken. Epikur versteht dies als das Ziel des glücklichen Lebens. Für die Lust am Leben hat die Verdauung eine tragende Funktion, da sie das Wohlergehen von Seele und Körper umfassend betrifft. Sind wir gesund, so verdauen wir leicht und lassen es uns gerne gut schmecken. Wird die Verdauung problematisch, mundet uns bald gar nichts mehr und wir werden krank. Das Interesse einer integrativen Gastrosophie, welche die Lust der Verdauungsorgane nicht auf die Lust von Geschmacksknospen auf Zunge oder Gaumen verengt, sollte damit deutlich geworden sein. Verdauungsfreundlicher Gourmandismus lässt sich mit Epikur leicht befürworten. Inwiefern das auch für geschmacksgeleitetes Gourmetentum zutrifft, möchte ich nun im letzten Abschnitt meines Artikels untersuchen.

III. Die Rolle des guten Geschmacks
Epikur schätzt die Lust des befriedigt ruhenden Magens, das sättigungsspezifische Wohlbehagen, höher als die Lust am Essen, aus der sie hervorgeht (Baudy, S. 29-30). Hat die Lust am guten Geschmack von Speise in der Philosophie Epikurs überhaupt eine nennenswerte Funktion?

In seinem bemerkenswerten Artikel zur Metaphorik der Erfüllung untersucht Gerhard Baudy unter Hinweis auf eine Kritik Ciceros, inwiefern Epikurs Lob der Sattheit zu Widersprüchen führt (Baudy, S. 32). Die Periodizität der körperlichen Leerung und Füllung mache die höchste Lust zu einem episodischen Zustand. Kontinuität verspreche sich Epikur von der Bewahrung des Lusterlebens im Gedächtnis. Gegen Schwankungen dieser Lust schütze ihn sicheres Vertrauen in die Zukunft, das er durch die Begrenzung seiner Abhängigkeit von äußeren Gütern unterstütze. In diesem Zusammenhang erkläre sich die Kritik Plutarchs, den die im Gedächtnis konservierte, statische, konstitutionelle bzw. katastemische Lust schmerzfreier Sattheit an abgestandene Nahrung in einer Speisekammer erinnert. Solcher Nahrung bediene man sich nur, wenn frische nicht vorhanden sei.

Allerdings gibt es Gründe gegen Plutarchs Ekel vor katastemischer Lust. Speisekammern sind doch gerade deshalb eine nützliche Erfindung, weil viele Nahrungsmittel nicht jederzeit frisch verfügbar sind. Auch schmeckt und bekommt manche Leckerei nach der Lagerung einfach besser. Ein Hinweis auf die Wirkung von Erinnerungslust bei aktuellem Leiden ist Idomeneus‘ Bericht vom Tod Epikurs (Rist, S. 120f): Trotz schlimmer Schmerzen in Blase und Magen habe der sterbende Epikur sich glücklich geschätzt. Nur Leiden schaffe Bedarf für zusätzliche Lust (Men., 128). Für die Erfüllung von Begierden, die keine Schmerzen verursachen, bestehe keine Notwendigkeit. (Lehrs. XXVI). Aus Vernunft können wir das Begehren nach unendlicher Lust korrigieren, wenn es aus dem durch die Notwendigkeit gesetzten Rahmen falle (Lehrs. XX). Doch auch die „große Vernunft" des Leibes (Nietzsche, Zarat.) kann übertriebenen Bedürfnissen vorbeugen. Epikur erinnert daran, dass der Bauch, entgegen verbreiteter Meinung, nicht unersättlich ist (Sprüche 59). Sein begrenztes Fassungsvermögen setzt der Lust ihre Grenzen. Baudy greift in diesem Zusammenhang eine These von Philodem auf: ein einziger Tag genüge, um das Leben vollkommen zu machen. Einmal gewonnene Lust ließe sich nur noch wiederholen und variieren, d. h. man könne sich seinen Magen zwar immer aufs Neue füllen und das mit verschiedener Nahrung, aber ein Vergrößern der Lust als solcher bedeute das nicht. Die natürliche Grenze der Lust sei die Magenwand. Ein Glück für den epikureischen Weisen: seine ausgezeichnete Erinnerung mache seinen einmal gefüllter Magen seiner Seele für immer präsent. Der Weise verstehe seine Bedürfnisse derart zu kontrollieren, dass er nichts andres begehre als katastematische Lust für Geist und Körper (Baudy, S. 31).

Seneca zeigt Sympathie. Epikurs Lehren findet er zutreffend, aber traurig, denn sie machten die Lust mager und klein. Wo Stoiker Gesetze auf die Tugend anwendeten, da unterwerfe Epikur die Lust der Natur. Für Ausschweifungen sei das zu wenig (Vita beata, XIII). Nur scheinbar teilt Nietzsche diese Einschätzung, wenn er Epikurs Üppigkeit mit einem Gärtchen, Feigen, kleinen Käsen und drei oder vier guten Freunden versinnbildlicht (Menschl., Allz., S. 638.). Solche Üppigkeit lässt sich nämlich nur dann als „mager" missverstehen, wenn die „geschmackliche" Qualität des mit ihr verbundenen Glücks, also der ästhetische Wert gastrosophischer Lust, übersehen wird. Nietzsche erklärt das anschaulich: „Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust." (Fröhl. Wiss., S. 411).

Auf der Grundlage solcher Bescheidenheit entwickelt sich der Reichtum des epikureischen Lobes der Lust an Speise. In gelassenen Betrachtungen finden die Freuden von Bauch und Gaumen zueinander. Im beständigen Übergang von Bewegungslust in Zustandslust füllt und leert die Verdauung ein Lustreservoir, von dem Leib und Seele profitieren. Die Erinnerung an Geschmackserlebnisse vervollständigt die ästhetische Qualität der gastrosophischen Lust. Epikurs Philosophie gibt Freiraum zur Abwägung zwischen Freude an Gesundheit, Verdauung und Geschmack.

IV. Abschließende Bemerkungen
Die Abwägung zwischen Verdauung und Geschmack ist eng mit unserer Gesundheit verknüpft. Die „richtige" Ernährung beruht auf einem Kompromiss, der sich aus dem Zusammenspiel persönlicher Veranlagungen, sozialer Rahmung, Wechsel der Jahreszeiten u. Ä. ergibt. Die Kenntnis der Zusammenhänge und Strukturen, in denen die Verdauung die Gesundheit fördert, erweitert unser Wissen über die Beziehungen zwischen der Welt und unserem Leben um wesentliche Aspekte.

Gastrosophische Betrachtungen zum Zusammenhang zwischen Mensch und Welt sollten nicht auf orale oder anale Vorgänge verengt werden. Innerhalb des digestiven Gesamtprozesses zwischen Einverleibung und Ausscheidung bewirken alle Teilvorgänge spezifischen Genuss. Oftmals wird uns das erst dann bewusst, wenn die Lust an einem Verdauungsvorgang in Unlust umschlägt. Epikur kann allenfalls bei flüchtiger Betrachtung als Anhänger einer „nur" geschmacksorientierten Lebenslust erscheinen. Gastrosophie in seinem Sinne ist mehr als eine Lehre von den Freuden des Gaumens. Gustation gibt Zugang zu anderen gastrosophischen Lüsten.

Also ist die Lust am Geschmack von Speise - ebenso wie die Lust an ihrem Geruch, an ihrer visuellen Erscheinung und an ihren taktilen Eigenschaften - mehr als ein Vorspiel der Lust an „eigentlichen" Verdauungsvorgängen in Magen und Darm. Das ästhetische Erleben des Zusammenspiels unserer Verdauungsorgane mit anderen „inneren" oder „äußeren" Körperteilen ist ein konstitutives Element für den Umgang mit der Welt und mit uns selbst. Die Vor- und Zubereitung von Speise kann dazu ebenso beitragen wie die Verwendung von Kot und Urin in der Landwirtschaft. Solche Vorgänge gehören zu einem umfassenden sozialen und ökologischen Gefüge, mit dem wir verdauend interagieren. Vor der Verdauung ist nach der Verdauung ist vor der Verdauung!

Die Freuden und Leiden in der Gartengemeinschaft Epikurs sind nicht auf geteilte Mahlzeiten im Rahmen einer kurzfristig gebildeten „Tafelgemeinschaft" beschränkt. Die „tiefe" Menschlichkeit der epikureischen Philosophie entspringt der Geborgenheit einer vertrauten Wohn-, Lebens- und Verdauungsgemeinschaft. In die glücklichen Erinnerungen, mit denen Epikur am Ende seines Lebens die Qualen seiner Verdauung überspielt, dürfte ein weites Spektrum gastrosophischer Lust eingeflossen sein. Unsere Verdauungsgewohnheiten betreffen unsere Persönlichkeit fundamental und besitzen darüber hinaus verbindliche kollektive Bedeutung. In einer Welt, in der Menschen um Speise betteln, während andere sie zu Müll (nicht zu Kot!) verarbeiten, könnte eine defensive Ethik klug reduzierter Lebensansprüche (Schnädelb., S. 289) zur Vermeidung mancher Geschmacklosigkeit beitragen.
Gastrosophische Genügsamkeit stärkt die Lust an „natürlich" begrenzter Fülle. Wer auf Überflüssiges verzichtet, kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Einfachste Speise bereitet höchste Lust, weil sie die Verdauung anregt, gut schmeckt und die Gesundheit fördert. Diese Einsicht gilt in Epikurs Garten, in Verbreitungsgebieten sogenannter Zivilisationskrankheiten und auch dort, wo Menschen am Hunger leiden.


Literatur

Athenaeus of Naucratis, The Deipnosophists, London, Henry G. Bohn, 1854.

Gerhard J. Baudy, „Metaphorik der Erfüllung: Nahrung als Hintergrundsmodell in der griechischen Ethik bis Epikur", in: Archiv für Begriffsgeschichte, Hamburg, Meiner, 1981, 7-68.

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