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Essen Wissen - Was ist und wozu Gastrosophie?

Harald Lemke.   

Lange Zeit galt es in der westlichen Gesellschaft und ihrer Philosophie für ausgemacht, dass kein größerer Gegensatz vorstellbar ist als der zwischen Ernährung und Erkenntnis, zwischen Geschmack und Philosophie, Essen und Wissen. Noch heute scheint der Glaube in den Köpfen - und Küchen - der meisten ein ums andere Mahl neu aufgewärmt zu werden, dass so etwas Banales wie das tägliche Essen wohl nichts mit Wissen zu tun habe und schon gar nichts Philosophisches sei. Auch mutet wohl vielen die Vorstellung fremd an, dass im weiten Feld der wissenschaftlichen Institutionen eine Wissenschaft des (guten) Essens - ein ›Zentrum für Gastrosophie‹ - fehlen könnte. Die individuelle und gesellschaftliche Überwindung dieses Befremdens, dieser kulinarischen Selbstentfremdung der Menschen, ist, wie ich denke, der zentrale Sinn und Zweck der Gastrosophie und ihrer akademischen Institutionalisierung.

Ein erster Schritt auf dem Weg, sich mit dem gastrosophischen Denken vertraut zu machen, ist leicht getan: Es bedarf zunächst nichts weiter als des Entschlusses, das ebenso alltägliche wie globale Nahrungsgeschehen als ein grundlegendes und darüber hinaus weltbildendes Phänomen der menschlichen Existenz ernst zu nehmen. Vielleicht isst der Mensch nicht ununterbrochen, aber die vielfältigen Dinge, die für die Produktion, die Vermarktung, die Besorgung, die Zubereitung und den Genuss von Essen unerlässlich sind, konstituieren ein beträchtliches Ausmaß des Menschseins und der gesellschaftlichen Realität.

Auf dieses Ausmaß kommt es hier an: Denn sicherlich setzt sich das Menschsein und die gesellschaftliche Realität aus vielen anderen Aktivitäten zusammen, die gar nichts oder vielleicht nur auf den ersten Blick nichts mit der Ernährung zu tun haben. Sicherlich macht die Welt des Essens nicht das ganze Leben der Menschen aus. Freilich, im landläufigen Sinne verkörpert - oft wohlbeleibt - die Figur des ›Gourmets‹ oder ›Feinschmeckers‹ die irreführende Auffassung, dass das kulinarische Vergnügen das ganze Leben sei. Doch von dieser ›ästhetisch-hedonistischen‹ Verabsolutierung des Kulinarischen setzt sich das gastrosophische Denken gerade ab, indem es die Tatsache (und die gleichzeitige Grenze ihres Gegenstandsbereiches) respektiert, dass die kulinarische Praxis nur ein Teilbereich der alltäglichen Lebenspraxis ist und die ›Welt des Essens‹ zwar einen umfangreichen, aber doch nur einen Weltbezug neben anderen Weltbezügen der menschlichen Existenz bildet.

Indes gibt es wenig vergleichbare Angelegenheiten, die ähnlich umfassend wie das Nahrungsgeschehen lokal und global in unzählige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens  - wie in die Ökonomie, die Landwirtschaft, die Politik, den Transport, die Kultur, das Gesundheitswesen, den Tourismus, die Künste, das Alltagsleben und die individuelle Identität (um nur einige Faktoren des Nahrungsdispositivs zu nennen) - hineinspielen und diese wesentlich prägen. Zu Recht sprach der französische Anthropologe Marcel Mauss vom Essen als einem »sozialen Totalphänomen«.

Wie ist es zu erklären - so muss man sich also mit großer Verwunderung fragen -, dass wir trotz der umfassenden Bedeutung des Nahrungsgeschehens in unserem Leben noch immer so wenig mit dem gastrosophischen Denken vertraut sind und anfangen können? Weswegen fällt uns die Vorstellung von der Existenz und dem Nutzen einer Wissenschaft des guten Essens so ungeheuer schwer? Warum ist die gastrosophische Perspektive der am meisten vernachlässigte Gesichtspunkt innerhalb der herkömmlichen Gesellschaftstheorie? Denn es scheint wohl kein Zweifel darüber zu bestehen, dass derzeit weder im aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs noch in der Ästhetik, der ökologischen Ethik oder der politischen Philosophie die augenscheinliche Dringlichkeit eines gastrosophischen Diskurses (trotz erster Ansätze) erkannt und entsprechend unterstützt wird.

Angesichts dieses diskursiven Schattens scheint es angebracht, die erste Voraussetzung für ein gastrosophisches Denken etwas zu präzisieren. Wenn ich eben davon sprach, dass es zur Entwicklung eines gastrosophischen Denkens nichts weiter als des Entschlusses bedarf, das ebenso alltägliche wie globale Nahrungsgeschehen als ein grundlegendes Phänomen der menschlichen Existenz und der gesellschaftlichen Realität wahrzunehmen, dann scheint es nun angebracht, diesen ersten Grundsatz der Gastrosophie dahingehend zu ergänzen, dass dieser Entschluss den individuellen Mut voraussetzt, sich gesellschaftlichen Konventionen zu widersetzen, die die Welt des Essens als ernst zu nehmendes Erkenntnis- und Handlungsfeld ignorieren.

Es braucht diesen Mut in dem Maße, wie man sich klarmachen muss, dass die gegenwärtig übliche, ungastrosophische Geringschätzung des Essens als etwas ethisch und philosophisch »Irrelevantes« auf eine wirkungsmächtige Tradition und tief verwurzelte Denkgewohnheiten der abendländischen Kulturgeschichte verweist. Ich meine, sich diese größeren Zusammenhänge der historischen Ontologie unseres kulinarischen Selbst bewusst zu machen, ist eine weitere Bedingung des gastrosophischen Denkens.

Von dem englischen Philosophen Alfred Whitehead ist der Ausspruch bekannt, dass die ganze Philosophiegeschichte eine Fußnote zu Platons Denken sei. Diese ungebrochene Wirkungsmächtigkeit des Platonismus zeigt sich besonders in Platons Ideal einer ›philosophischen‹ Haltung zum Essen. In dem späten Dialog Phaidon verwickelt der platonische Sokrates sein Gegenüber Simmias in das folgende Gespräch:

»Scheint dir«, fragt dort der Begründer der westlichen Philosophie, »dass es sich für einen philosophischen Mann gehöre, sich Mühe zu geben um die Lüste am Essen und Trinken? - »Nichts weniger wohl als das«, sprach Simmias. <...> -

»Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst du, dass ein solcher sie groß achte? « <...> -

»Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahrhafte Philosoph.«

Mit diesen Worten legt Platon dem Simmias einen fatalen Grundgedanken der abendländischen Metaphysik bzw. Anthropologie in den Mund. Der wahrhafte Philosoph oder Mensch, wie ihn sich das klassische Denken wünschte und erst recht wie ihn in den darauf folgenden Jahrhunderten die christliche Moral predigte, distanziert sich von den leiblichen Bedürfnissen und Lüsten des Essens und Trinkens. Der ›vernünftige‹ Mensch (und Mann) stellt seine ›Tugend‹ und seine ›richtige Lebensweise‹ dadurch unter Beweis, so will es diese Philosophie, dass er die kulinarischen Dinge für gering achtet und sich um sie nicht groß kümmert. (In Wahrheit weiß es die westliche Philosophie eigentlich von Anfang an besser: Ihrer ursprünglichen Wortbedeutung nach ist die Philosophie, als das Streben nach der sophia, der Weisheit, auch ein Streben nach einem Sinn für Geschmack. Nietzsche erinnert daran, dass das griechische Wort sophia ebenfalls die Bezeichnung für (einen gut ausgebildeten) Geschmack war.(1)Mit einer gewissen Berechtigung kann also gesagt werden - und die historischen Etappen eines gastrosophischen Vordenkens, ausgehend von Epikur über Montaigne und Rousseau bis zu Feuerbach und Nietzsche, belegen diese Behauptung -, dass im verborgenen Zentrum der westlichen Philosophie auch ein Wille zum gastrosophischen Wissen steckt. Doch, um mit dem Utopiker Ernst Bloch zu sprechen, nicht dieser gastrosophische »Wärmestrom«, sondern der metaphysische »Kältestrom« des Platonismus breitete sich in der abendländischen Kulturgeschichte zum allgemeinen »Mainstream« aus.)

In der traditionellen, über Hunderte von Jahren eingeübten und verinnerlichten Herabwürdigung einer potenziellen Lebenspraxis des guten Essens (als Teilaspekt einer Ethik des guten Lebens) wirkt sich gewissermaßen die antigastrosophische Grundidee eines Fast-Food-Denkens aus, das die Lust am Essen zu einer Nebensache des Menschseins degradiert. Gerechtfertigt (rationalisiert) durch ein althergebrachtes Moralsystem, beherrscht diese Fast-Food-Mentalität bis heute das kollektive Bewusstsein. Immer noch erscheint es den Philosophen und den meisten Menschen ganz selbstverständlich, dass die Art und Weise, wie sie essen, keine wirklich bedeutende Angelegenheit ist. Entgegen aller Evidenzen hält man an dem Glauben fest, dass die ebenso individuelle wie globale Ernährungsfrage gegenüber anderen und vermeintlich wichtigeren Dingen der menschlichen Existenz als unwichtig und als Kleinigkeit abgetan werden kann. Am prägnantesten kommt diese antigastrosophische Weltanschauung und Lebenshaltung in der Behauptung zum Vorschein, Essen habe nichts mit Wissen zu tun.

Doch alles spricht dafür, dass der schon lange - allzu lange - vor sich hin köchelnde Glaube an den Gegensatz von Essen und Wissen vor allem eines ist: ein Scheinwiderspruch. Alles am Essen ist Wissen: die unendlich komplexen Sachkenntnisse des Anbaus, der Herstellung und Zubereitung, die ganze Wissenschaft und Technik der Verarbeitung, Verpackung und Vermarktung, das ausdifferenzierte System an politischen und gesetzlichen Vorgaben und Regelungen, die feinsinnigen Geschmacksreflexionen und Speisebedeutungen genauso wie die zumeist unzureichenden Verbraucherinformationen oder die theoretischen und individuellen Ernährungslehren und Diätnuancen, das variable Preiswissen nicht weniger als das alltägliche Erfahrungswissen, was einem am besten schmeckt - aus allen diesen Erkenntnissen setzt sich unser Essenswissen zusammen. Niemand weiß nicht, was er isst, und niemand isst, ohne alles dies irgendwie zu wissen. Irgendwie - doch wie ›gut‹ wissen wir wirklich zu essen?

Mit dieser Infragestellung des normalen Ernährungsbewusstseins bin ich bei einem weiteren Merkmal des gastrosophischen Denkens. Schon eine minimale Selbstdistanzierung und Problematisierung unserer alltäglichsten Entscheidungen und Handlungen durch die Frage, wie wir essen, führt erst richtig in das philosophische Zusammenspiel zwischen Essen und Wissen hinein: Was sind die Grundlagen unserer Ernährung? Welche Möglichkeiten habe ich, und welche Wahl treffe ich? Welche Produkte bergen welche Inhaltsstoffe, wer produziert sie, wie werden sie konserviert, manipuliert, transportiert, was passiert mit ihren Resten? Wer bin ich, dass ich ›so‹ esse, wie ich es tue und wozu ich mich tagtäglich bei jedem Kaufakt, bei jedem Gericht und jeder Speisezusammenstellung von Neuem entscheide? Welche Konsequenzen, Risiken und Nebenwirkungen hat dieses, ›mein‹ Essen - für mich selbst und für alle anderen? Das sind gastrosophische Fragen des Alltags. Allerweltsfragen, die zeigen, dass es an der Zeit ist, sich von dem traditionellen Glauben an das Unwissen unseres kulinarischen Lebens, unserer Essistenz zu befreien.

Darüber hinaus lässt sich das, was ›Gastrosophie‹ ist, inhaltlich als eine bestimmte Methode des Denkens charakterisieren. Denn das gastrosophische Nachdenken über die Welt des Essens stellt herkömmliche Erkenntnisgegenstände und Wissensfelder auf eine ungewohnt transdisziplinäre und ganzheitliche Weise neu zusammen: Die landwirtschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen, medizinischen sowie die ethischen, ästhetischen und leiblichen Aspekte des Essens philosophisch zu reflektieren heißt, sich mit Wissenschaften und Dingen gleichzeitig zu beschäftigen, die sonst in verschiedenen Diskursen und Fachdisziplinen zerstreut sind und voneinander getrennt betrieben werden. Mit anderen Worten: Man beginnt gastrosophisch zu denken, sobald man sich von der beschränkten Sicht eines rein fachwissenschaftlichen Blicks und einer bloß subjektiven (vorgastrosophischen) Einstellung gelöst hat, um möglichst alle Facetten des Ganzen zu erfassen, die die ›ganze Wahrheit unseres täglichen Essens‹ ausmachen. Vielleicht wäre es, um diese ganzheitliche Sichtweise zu markieren (und den Provinzialismus der vorgastrosophischen Sichtweise zu vermeiden), nicht unangebracht, statt lediglich vom „Essen" besser vom „Weltessen" zu sprechen: Unsere kulinarische Lebenspraxis konsumiert nicht nur, sondern konstituiert zugleich eine ›ganze Welt‹ - die gigantische Welt des Essens.

Als weiteres Erkennungsmerkmal eines gastrosophischen Denkens ist die moralische Orientierung anzuführen. Die moralische oder ethische und politische Orientierung fühlt sich dem normativen Universalismus einer sozialen Gerechtigkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit verpflichtet: Gerade weil unsere Ernährungsweise moralische und weltgesellschaftliche Probleme verursacht, brauchen wir eine Gastrosophie als Weisheitslehre eines für alle guten Essens. Wer keinen Begriff, keine klaren Vorstellungen von einem im ethischen und politischen Sinne guten Essen hat, verkennt leicht gastrosophische Sachverhalte wie beispielsweise die globalen Zusammenhänge des Welthungers, die weiterhin tagtäglich unzähliges, aber vermeidbares Leid verursachen; die ungelöste Problematik der zukünftigen Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung angesichts der Grenzen der ökologischen Belastbarkeit des Planeten; die wachsende Zahl von Menschen, die sich durch eine fettige, süße und fleischlastige Ernährungsweise eine chronische Fettleibigkeit ›zulegen‹ sowie die globale McDonaldisierung, die eine häusliche Alltagsküche durch industriell produzierte Fertigkost ersetzt und weltweit die familiären Mahlgemeinschaften durch standardisierte Schnellrestaurants bzw. durch flexible und individualisierte Praktiken eines schnellen Essens, durch ›Fast-Food-Sitten‹ ersetzt.

Mit diesen Stichworten und globalen Trends sind nur die offenkundigsten Themen einer gastrosophischen Gesellschaftstheorie und deren Idee des Guten bzw. Unguten berührt. Diese Stichworte und Trends, die uns allen im Übrigen mehr oder weniger bekannt sind, machen deutlich, dass mit der scheinbar unwichtigen Kleinigkeit des Essens unausweichlich politisch-ökonomische und ethisch-kulturelle Wertfragen aufgetischt werden. Ob es einem schmeckt oder nicht: Die eigene Ernährungsweise ist keine Privatsache, sondern ein in vielerlei Hinsicht moralisches Handlungsfeld. Die Zukunft der Weltgesellschaft hängt deshalb ganz entscheidend von der Entwicklung der Tischgesellschaft ab, also davon, ob wir oder wie viele von uns in Zukunft die Freiheit unseres Wohlstandes nutzen, ein für alle gutes Essen zu praktizieren?

Diese gastrosophische Grunderkenntnis, die in Zeiten alarmierender Lebensmittelskandale und eines ständig wachsenden ›Biobooms‹ immer mehr Menschen gewinnen, erfordert - um diesen zentralen Punkt noch einmal zu betonen - nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine fundamentale Revision der weltanschaulichen Herabwürdigung und philosophischen Missachtung des Essens - erfordert in einem Wort: ein neues gastrosophisches Denken.

In diesem Zusammenhang möchte ich an den römischen Philosophen Seneca und dessen verächtliche Haltung gegenüber dem gastrosophischen Diskurs seiner Zeit erinnern. Der berühmte Philosoph kritisierte die Kochschule von Marcus Gavius Apicius, dem Starkoch des antiken Roms, auf das Heftigste. Dieser »Lehrer der Kochkunst« habe, so Senecas Urteil, »mit seiner Wissenschaft den Zeitgeist angesteckt«. (Helvia, X,2) Verärgert musste der Begründer des ›stoischen‹ Lebensideals zur Kenntnis nehmen, dass die Popularität von Kochbüchern und einer Wissenschaft des guten Essens weit größer ist als das Interesse an seiner Philosophie und einer stoischen Ethik. Hören wir dazu noch einmal Seneca: »Die Professoren der freien Künste dozieren ohne Publikum vor verlassenen Schulräumen; in den Rhetoren- und Philosophenschulen herrscht gähnende Leere: hingegen, welchen Zulaufs erfreuen sich die feinen Küchen, wie zahlreich drängt sich die Jugend um die Feuerstellen der Lebemänner!« (Über Ethik, 95. Brief, 23)

Diese für die Philosophie schmachvolle Situation könnte sich, wie ich hoffe, in Zukunft ändern. Jedenfalls darf davon ausgegangen werden, dass die Lehre einer Lebenskunst des guten Essens nicht nur für die Philosophie ein großer Gewinn sein würde. Jede Veranstaltung und jede Einrichtung, die gastrosophische Erkenntnisse vermittelt, wird sich in der breiten Öffentlichkeit eines großen Zulaufes erfreuen und wird - im wahrsten Sinne des Wortes - in aller Munde sein.

Die ungewöhnliche Tatsache, dass eine Theorie und Praxis des guten Essens auch den kulinarischen Genuss und das konviviale Tafelvergnügen beinhalten, ist ein großer Vorteil für die Gastrosophie. Denn indem sich bei ihr Ethik nicht nur mit Politik sondern auch mit Ästhetik (der Kochkunst, des Geschmacks und der konvivialen Mahlgemeinschaft) verbindet, könnten die Menschen in diesem Fall dem moralisch Guten nicht bloß aus Pflicht, sondern auch aus Neigung folgen. Vielleicht sorgt gerade die ungewöhnliche und lustvolle Vermählung von Vernunft und Sinnlichkeit, von Moral und Ästhetik in der kulinarischen Lebenskunst dafür, dass sich die Jugend bzw. alle im Geiste jung Gebliebenen in Zukunft um die Feuerstellen der Gastrosophie drängen.

Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich in den letzten drei Jahrzehnten eine paradigmatische Umwertung der tischgesellschaftlichen Werte vollzieht. Die westliche Kultur beginnt - noch zögerlich, aber doch spürbar - eine neue Haltung gegenüber dem Essen zu entwickeln. Bei einer zunehmenden Zahl von Menschen wächst die Bereitschaft, die ›traditionelle Fast-Food-Philosophie‹ zu hinterfragen und durch ein anderes, nennen wir es ein gastrosophisches, Ernährungsdenken zu überwinden. Nicht nur in unzähligen Diätratgebern, Kochsendungen und der medialen Inszenierung einer neuen Lust des Kochens lassen sich die Suchbewegungen eines Umdenkens beobachten. Auch im wissenschaftlichen Bereich vollzieht sich in jüngster Zeit ein gastrosophical turn. Zum Abschluss möchte ich noch einige Worte zu dieser bislang noch recht unscheinbaren Bewegung sagen.

In der Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert setzte sich mit dem allmählichen Triumphzug der modernen Naturwissenschaft und ihrem mechanistischen Körperverständnis ein primär naturwissenschaftliches Ernährungsdenken durch. Dieses naturwissenschaftliche Ernährungsdenken hat die simple Vorstellung etabliert, dass zu ›essen‹ bedeute, dem Körper ausreichend Nährstoffe in Form von Kalorien oder Brennwerten zuzuführen. Neben der vorhin schon erwähnten platonischen und christlichen Denktradition ist es dieses Bild vom Essen als bloßer Zufuhr von Nährstoffen, das bis heute in den Köpfen und Küchen einer großen Mehrheit der Menschen vorherrscht: Man isst lediglich, um die verbrauchten Energien der Körpermaschine nachzutanken. Vielleicht geht man nicht falsch in der Vermutung, dass der nutritive Funktionalismus unserer Tage in einem gewissen Sinne lediglich die metaphysische Geringschätzung des Essens seitens der asketischen Philosophen und Sittenlehrer in eine naturwissenschaftliche Sprache übersetzt und rationalisiert.

Eine grundlegende Kritik dieses Denkens kam bereits bei den Gastrosophen des frühen 19. Jahrhunderts wie Jean Anthelme Brillat-Savarin, Eugen Vaerst oder Friedrich Rumohr auf. Sie entwarfen eine Philosophie des Essens, die neben physiologischen Gesichtspunkten auch kulturelle und politisch-ökonomische Aspekte berücksichtigte und durch ein solches umfassenderes Verständnis der menschlichen Tischgesellschaft einen universellen anthropologischen Zugang begründete. Der viel versprechende Ansatz dieses frühen gastrosophischen Diskurses fand indessen (und trotz nachweislicher Resonanz bei einigen Philosophen, namentlich Feuerbach und Nietzsche) keine systematische Fortsetzung. Zwar setzt in der Jahrhundertwende mit der so genannten Lebensreform-Bewegung auch eine Aufwertung der Ernährungsfrage und Naturheilkost ein; sie ist jedoch von keiner nennenswerten philosophischen Reflexion begleitet worden.

Eine kulturtheoretisch ausgerichtete Beschäftigung mit der Essensthematik beginnt erst wieder in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit wird insbesondere in der strukturalistischen und historischen Anthropologie, in der Kultursoziologie im Anschluss an Norbert Elias und Pierre Bourdieu, in der Historiographie sowie in den Postcolonial Studies oder in der feministischen Theorie die gastrosophische Wende vollzogen. Ebenso haben in den letzten Jahren die Politologie und die Wirtschaftswissenschaft bzw. die Wirtschaftsethik das Thema entdeckt. Auch im Nachhaltigkeits- und Antiglobalisierungsdiskurs findet eine zunehmende Berücksichtigung von gesellschaftlichen Fragen eines besseren Ernährungssystems statt. Mittlerweile erscheinen im angelsächsischen Sprachraum bereits Publikationen unter der eigenständigen Rubrik Food Studies. Auch im deutschsprachigen Raum nehmen Beiträge zu einer Kulturwissenschaft des Essens zu.

Seit einiger Zeit formieren und diversifizieren sich also die Forschungsaktivitäten und Reflexionen eines gastrosophischen Denkens. Doch aufs Ganze gesehen geschieht dies nach wie vor in einer eigentümlichen Unsichtbarkeit und Unbekanntheit. Denn wenngleich in dem kurzen Zeitraum von nicht einmal drei Jahrzehnten eine große Menge an Büchern zu gastrosophischen Dingen erschienen ist und darüber hinaus sogar erste Forschungsinstitutionen und Studiengänge eingerichtet werden, vollzieht sich der gastrosophical turn vom mainstream des Wissenschaftsbetriebs entweder nahezu unbemerkt oder ungewünscht.

Immer noch müssen diejenigen, die sich aus ihrer jeweiligen Disziplin heraus mit dem Thema Essen beschäftigen, dies eher nebenbei tun und sich gegenüber ihren Kollegen für diese Ausrichtung ihrer Arbeit ›rechtfertigen‹. Zweifelsohne wird sich dies in absehbarer Zeit ändern und es wird sich eine abschätzige Haltung gegenüber gastrosophischen Fragen und Themen als ein unwissenschaftliches und unpolitisches Vorurteil erweisen.

Daher möchte ich anlässlich der Eröffnung eines ersten Zentrums für Gastrosophie meine Überlegungen mit einer kleinen Denkwürdigkeit beschließen. Dem epikureischen Geist der italienischen Renaissance ist es zu verdanken, dass zu jener Zeit in Florenz mit der Gesellschaft des Kochkessels, der Compagnia del Paiolo, das erste moderne Zentrum für Gastrosophie gegründet wurde. Ein aufgeweckter Zeitgenosse, namentlich der französische Philosoph Michel Montaigne, berichtet von einem Gespräch, welches er mit einem italienischen Koch geführt habe. Nicht ohne seine Irritation gegenüber einem - damals sogar für einen Franzosen noch - ungewohnten Wissenstyp zu bekunden, schreibt Montaigne: »Ich ließ ihn von seinem Amt erzählen. Er hielt mir einen Vortrag über diese Gaumenwissenschaft mit so feierlicher Salbung und Würde, als ob er mir von einem entscheidenden Kernpunkt der Theologie gesprochen hätte. <...> Er erörterte die Behandlung von Saucen, erstens im allgemeinen, und dann die Eigenschaften und Wirkungen der Zutaten im besonderen; die Verschiedenheit der Salate nach ihren Jahreszeiten, jene, die warm aufgesetzt, und jene, die kalt aufgetragen sein wollen; die Art, sie zu schmücken und zu verschönern, um sie dem Auge gefällig zu machen.«

Die intellektuelle Unbefangenheit und Freigeisterei, mit welcher bereits der Frühaufklärer Montaigne seine philosophische Neugier gegenüber den facettenreichen Aspekten der Gaumenwissenschaft zum Ausdruck bringt, verbürgt die Zukunft der Gastrosophie. Doch angesichts der auch heute noch grassierenden Vorurteile und Abschätzigkeiten gegenüber einem solchen Denken veranschaulicht Montaignes Irritation auch, dass wir immer noch ganz am Anfang des Zeitalters und des Projektes einer gastrosophischen Aufklärung stehen. Daher möchte ich hier das folgende Motto aussprechen: Sapere aude! »Habe Mut zur Weisheit eines für alle guten Essens.« Ein Motto übrigens, das man gerne gerade von Immanuel Kant (dem unbekannten Gastrosophen) hätte hören wollen.(2)

Doch im Vergleich zu deutschen Denkern und deutscher Kultur scheinen derzeit eher die Österreicher die Vorreiterrolle in der Aufklärungsbewegung zu übernehmen. Jedenfalls sind beispielsweise von dem aus Österreich stammenden Künstler Peter Kubelka schon seit den 1980er Jahren(3)und in jüngster Vergangenheit vor allem mit den Dokumentarfilmen We feed the World von Erwin Wagenhofer und Unser täglich Brot von Nikolaus Geyrhalter wichtige massenwirksame Impulse eines gastrosophischen Umdenkens ausgegangen. Diese bislang rein künstlerische Auseinandersetzung jetzt auch in den universitären, wissenschaftlichen Bereich hineinzutragen, durch die Eröffnung eines ersten Zentrums für Gastrosophie, ist ein konsequenter weiterer Schritt in diese richtige Richtung. Seinem Initiator Prof. Lothar Kolmer wünsche ich viel Erfolg bei diesem mutigen Unternehmen.

Literatur

Lemke, Harald (2007): Die Kunst des Essens. Zur Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld.

Lemke, Harald (2007): Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin.

Lemke, Harald (2008): Die Weisheit des Essens. Gastrosophische Feldforschungen, München.

Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen.

 

Quellen, Anmerkungen

  1. „Das griechische Wort, welches den Weisen bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausmerken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also, nach dem Bewusstsein des Volkes, die eigentümliche Kunst des Philosophen aus." Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 1, 816.  
  2. Harald Lemke, Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin 2007; ders., Die Weisheit des Essens. Gastrosophische Feldforschungen, München 2008.  
  3. Harald Lemke, Die Kunst des Essens. Zur Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld 2007.